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Schreibende Frauen im Mittelalter: Dichterinnen und Mystikerinnen
November 23, 2016
Frauen waren im Mittelalter nur für Haushalt und Kinder zuständig und hatten mit Politik, Kultur und Literatur nichts zu tun? Von wegen! Hier sind vier Schriftstellerinnen aus dem Mittelalter, deren Biographien und Texte auch heute noch begeistern:
Christine de Pizan, eine der bedeutendsten französischen Schriftstellerinnen des Mittelalters, präsentiert ihr Buch der Königin Isabeau de Bavière (Abbildung: British Library, Harley 4431, f. 3) |
1. Hildegard von Bingen (1098-1179): Die Prophetin vom Rhein
Hildegard war die Äbtissin des Benediktinerinnenklosters auf dem Rupertsberg bei Bingen. Sie war ein richtiges Multitalent: Dichterin, Komponistin, Mystikerin, Universalgelehrte – und nebenbei gründete sie noch zwei Klöster. Außerdem hat Hildegard von Bingen öffentlich gepredigt und stand im Briefwechsel mit vielen einflussreichen Fürsten und Geistlichen. Kaiser Friedrich Barbarossa zum Beispiel kritisiert sie hart für die Unterstützung des Gegenpapstes Calixt III.
Hildegard von Bingen hat in ihren prophetischen und religiösen Texten neue Thesen zu Theologie und Philosophie entwickelt und dabei viele Theorien der zeitgenössischen Theologen angegriffen.
So zum Beispiel die mittelalterliche Meinung zum Verhältnis von Mann und Frau: Die Philosophen zur Zeit Hildegards lehrten nämlich, dass der Mann über der Frau steht, weil er aus den oberen Elementen Feuer und Luft besteht – die Frau dagegen nur aus Wasser und Erde. Hildegard widerspricht: Der weibliche Körper besteht aus Luft und Wasser und deshalb herrscht ein Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern!
Sogar den Papst erreichten die Schriften Hildegards von Bingen: Papst Eugen III. las auf der Synode von Trier (1147/48) vor allen Teilnehmern aus den „Scivias“, dem ersten großen Werk Hildegards vor. Dank dieser öffentlichen Rückendeckung konnte Hildegard sich freier und offener äußern als die meisten Frauen ihrer Zeit.
Auch über medizinische Themen hat Hildegard von Bingen geschrieben und dabei Behandlungsmethoden aus der griechisch-lateinischen Tradition und der Volksmedizin verbunden. In Hildegards Werk findet sich die Wirkung vieler Heilpflanzen so präzise und ausführlich beschrieben, dass noch heute viele Menschen auf ihr Wissen vertrauen.
2. Marguerite Porete (um 1250/60–1310): Die häretische Begine
Marguerite Porete stammte wohl aus der Stadt Valenciennes und war schon zu Lebzeiten für ihr umfassendes theologisches Wissen berühmt. Sie war keine Nonne, sondern eine Begine. Das heißt sie lebte nicht in einem Kloster, führte aber ein religiöses und eheloses Leben auf einem sogenannten Beginenhof.
Nicht nur so hob sich Marguerite von den Instanzen und Lehren der Kirche ab: In ihrer Schrift „Spiegel der einfachen Seelen“ formulierte sie eine komplett eigenständige theologische Lehre und erregte damit großes Aufsehen: Wenn sich die Seele von allen Dingen wie Armut und Reichtum oder Liebe und Hass freimacht, so Marguerite, dann kann der Mensch ein höheres Stadium der geistlichen Existenz erreichen, auf dem er auch an die Tugenden nicht mehr gebunden ist.
Gebete, Spenden und andere fromme Taten sind zum Erreichen dieses Ziels dagegen nutzlos. Die Institutionen der Kirche verlieren dann natürlich ihre Funktion als Vermittler zwischen Gott und Menschen.
Viele Priester und Bischöfe verurteilten die Thesen Marguerites deshalb scharf. Immer wieder musste sie sich vor den Vertretern der Kirche verteidigen. So zum Beispiel im Winter 1308 in Paris: Dort wurde sie von Guillaume Imbert verhört, der für sein hartes Vorgehen gegen vermeintliche Ketzer berüchtigt war. Im Prozess gegen die Templer 1307 hatte Guillaume Imbert auch den Großmeister Jacques de Molay verhört.
Die Thesen von Marguerite Portete wurde als Ketzerei verurteil und ihr wurde von der Kirche verboten, ihre Ideen weiterhin öffentlich vorzutragen. Doch Marguerite widersetzte sich. Ihr Streit mit der Amtskirche endete schließlich tödlich: Der Bischof von Cambrai ließ Marguerite am 1. Juni 1310 wegen ihrer theologischen Thesen öffentlich verbrennen.
3. Christine de Pizan (1364–1429): Die französische Hofdichterin
Christine de Pizan war eine der bedeutendsten mittelalterlichen Schriftstellerinnen der französischen Literatur und sie war wahrscheinlich die erste französische Autorin, die von ihren Werken leben konnte.
Ihr Vater, Tommaso di Benvenuto, war Astrologe und Mediziner am Hof des französischen Königs Karl V. Dort am Hof eignete sich Christine de Pizan in der großen königlichen Bibliothek im Selbststudium ein umfangreiches Wissen über Philosophie, Literatur, Geschichte und Theologie an.
Christines Ehemann starb bereits 1390. Damals war Christine erst 25 Jahre alt und musste ihre zwei Kinder alleine versorgen, denn ihr Vater hatte seine Position am Königshof verloren. Im Schreiben fand Christine in dieser schweren Zeit neuen Trost – und ein finanzielles Einkommen. Besonders ihre Gedichte und Liebeslyrik begeisterten das Publikum.
Christine de Pizan bei der Niederschrift eines ihrer Werke. (Abbildung: British Library, Harley 4431, f. 4) |
Ihre elegante Lyrik ist geprägt von der höfischen Literatur der Troubadoure: Das Liebesverhältnis zwischen Mann und Frau ist eine einzige Achterbahnfahrt aus Zurückweisung, neuen Avancen, triefenden Liebesschwüren, ungezügelten Emotionen und scheinbar endlosem Liebeskummer.
Christines bekanntestes Werk ist sicherlich „Das Buch von der Stadt der Frauen“. Darin erzählt sie von berühmten und tatkräftigen Frauen aus der Bibel und der Geschichte. Ihr Ziel: Die Welt davon überzeugen, Frauen und ihre Fähigkeiten nicht zu verkennen, sondern sie in Zukunft als gleichberechtigt neben den Männern anzuerkennen.
Doch Christine schrieb auch für die adeligen Männer ihrer Zeit: In einem Handbuch für den perfekten Ritter erläutert sie die Qualitäten eines guten Anführers und beschreibt, wie ein Heer am besten organisiert werden sollte vor der Schlacht. Christine de Pizan empfiehlt, Kriegsgefangene nicht zu töten und die Zivilbevölkerung zu verschonen. Außerdem soll der kluge Anführer immer darauf achten, genügend Betten und Wein auf den Feldzug mitzunehmen.
4. Margery Kempe (1373-1438): Die religiöse Enthusiastin aus England
„The Book of Margery Kempe“ ist die erste Autobiographie in englischer Sprache. Schon das macht ihr Buch zu einem ganz besonderen Werk der englischen Literatur. Obwohl der Leser viele Details aus dem Alltag im spätmittelalterlichen England erfährt, steht immer nur eine Person im Zentrum: Margery Kempe selbst. Sie schreibt sehr intim über ihre Gedanken, Gefühle und Eindrücke. Das macht ihr Werk zu einem ganz und gar außergewöhnlichen mittelalterlichen Buch.
Zu Beginn ihrer Autobiographie ist Margery noch eine ziemlich neidische und überhebliche Frau, die sich unter anderem als Bierbrauerin und Müllerin versucht – und dabei grandios scheitert.
Deshalb wendet sie sich schließlich Gott und einem frommen Leben zu: Sie reist herum und predigt, pilgert ins Heilige Land und sucht spirituelle Inspiration. Dabei ist sie stets eine laute und auffällige Person, die so mancher Zeitgenosse für eine Häretikerin, also für eine Anhängerin verbotener Glaubenslehren hält. Immer wieder hört sie die Stimmen von Jesus und anderen Heiligen oder riecht paradiesische Gerüche.
Margery Kempe traf auf ihrem Lebensweg viele bedeutende Personen der Zeit, darunter den Theologen Alan of Lynn und den Erzbischof Henry Bowet von York. Für Margery Kempe stehen vor allem ihre Anstrengungen, ein frommes Leben zu führen, im Mittelpunkt des Buches. Über so manches aus ihrem Leben erfährt der Leser deshalb nichts: Ihre 14 Kinder erwähnt sie überhaupt nie und auch über ihr Leben als Hausfrau schweigt sie.
Dafür schildert sie ausführlich eine Diskussion mit ihrem Mann über Sinn und Zweck eines Keuschheits-Gelübdes. Ab 1413 leben die beiden in absoluter Keuschheit. Auch mit der Chronologie nimmt es Margery nicht so genau: Das Buch entsteht am Ende ihres Lebens und sie springt von Erinnerung zu Erinnerung ohne sich an eine feste Reihenfolge zu halten.
Dies ist die einzige erhaltene Handschrift des Buchs von Margery Kempe. (Abbildung: British Library, MS 61823f. 11r) |
Selbst geschrieben hat Margery Kempe den Text aber wohl nicht – sie konnte mit großer Sicherheit weder Lesen noch Schreiben. Wahrscheinlich hat sie das Buch also einem Schreiber diktiert. Wie groß der Einfluss dieses Schreibers auf den endgültigen Text war, das lässt sich natürlich jetzt nicht mehr feststellen.
Widerstand gegen schreibende Frauen im Mittelalter
Diese Liste mittelalterlicher Schriftstellerinnen ließe sich noch mühelos fortsetzen. Allerdings stimmt auch: Schreibende Frauen hatten im Mittelalter einen harten Stand. Obwohl es laut der Bibel die Frau war, die im Paradies als erste geredet hatte, wurde die Stimme der Frauen in der mittelalterlichen Gesellschaft oft unterdrückt. Allen voran die Kirche und die Geistlichen übten harsche Kritik an Frauen, die ihre Meinungen allzu laut in Wort und Schrift äußerten. Schließlich hatte Eva im Paradies Adam dazu verführt, den verbotenen Apfel zu kosten.
Die Renaissance: Größere Freiheiten für die Schriftstellerinnen
Erst in der Renaissance können sich Schriftstellerinnen wie die Italienerin Lucrezia Marinella (1571–1653) freier äußern und auch Kritik üben – etwa am Frauenbild des griechischen Philosophen Aristotles, den sie als eitlen Gesellen bezeichnet. Solch offene Kritik ist den meisten mittelalterlichen Schriftstellerinnen noch nicht möglich. Das macht die schreibenden Frauen im Mittelalter aber natürlich umso bewundernswerter: Gegen alle Widerstände haben sie ihre Gedanken aufgeschrieben und mitgeteilt. Diesen weiblichen Stimmen ist es zu verdanken, dass unser Bild vom Mittelalter heute um viele Facetten reicher ist.
Literatur zu den schreibenden Frauen im Mittelalter
Gössmann, Elisabeth: Religiös-theologische Schriftstellerinnen. In: Duby, Georges/Perrot, Michelle (Hg.): Geschichte der Frauen. Bd. 2: Mittelalter, Paris 1993, S. 495-510.
Dinshaw, Carolyn/Wallace, David (Hg.): The Cambridge Companion to Medieval Women’s Writing. Cambridge 2003.
Thiébaux, Marcelle: The Writings of Medieval Women. An Anthology. Second Edition, New York/London 1994.
Wilson, Katharina M. (Hg.): Medieval Women Writers. Athens, Georgia 1984.
2 Kommentare
Vielen Dank für den tollen Artikel, den ich hier in meinem Blogpost verlinkt habe: https://wortlicht.wordpress.com/2020/11/13/klassisch-mannlich-literatur-in-der-schule/
AntwortenLöschenLiebe Grüße, Tala
Danke dir und super Artikel, liebe Tala! :)
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