Kulturgeschichte
Kurioses
Spätmittelalter
Ritter, die gegen Schnecken kämpfen
November 09, 2016
Handschriften zählen zu den schönsten Quellen, die uns aus dem Mittelalter erhalten geblieben sind - vor allem
wegen den farbenfrohen Buchmalereien. Um den Text ranken sich oft verspielte Schmuckelemente und freie Flächen an den Rändern der einzelnen Seiten werden oft mit Illustrationen
gefüllt. Oft verstecken sich genau hier, in den Illustrationen und Schmuckelementen, kuriose Details, die der Leser erst beim zweiten Hinsehen erkennt. Zu den verrücktesten Motiven
in mittelalterlichen Handschriften zählt sicherlich die Darstellung eines Ritters, der gegen eine gigantische Schnecke kämpft. Ende des 13. Jahrhunderts findet sich
in sehr vielen Handschriften aus Nordfrankreich, Flandern und England eine Abbildung dieses Kampfes zwischen Ritter und Schnecke. Doch was hat es damit auf sich? Und was sollen diese
Bilder bedeuten?
Ein Ritter greift mit angelegter Lanze eine Schnecke an. Solche Abbildungen finden sich in vielen mittelalterlichen Handschriften - doch was bedeuten sie? (Abbildung: Brunetto Latini, Li Livres duo Tresor, 1315-1325, Yates Thompson MS 19, f. 65r) |
Warum genau in den mittelalterlichen Handschriften in den Zeit um 1300 so oft gigantische Schnecken auftauchen, weiß niemand. Es gibt aber verschiedene Theorien, was der Kampf zwischen dem Ritter und der Schnecke zu bedeuten hat. Ich habe englischsprachige Blog-Beiträge (unter anderem von der British Library und von My Albion) und die wissenschaftliche Literatur ein bisschen durchforstet und habe diese 5 möglichen Deutungen gefunden:
1. Humor, Satire und Spott
Um 1300 dominiert in der mittelalterlichen Kunst die Drolerie, eine sehr derbe und groteske Darstellung von Menschen, Tieren und Fabelwesen. Diese Karikaturen in der Buchmalerei sollten vor allem witzig sein und unterhalten. Auch im sakralen und religiösen Bereich finden sie sich häufig - zum Beispiel als Wasserspeier an gotischen Kirchen.
Die Abbildungen von Rittern, die gegen übergroße Schnecken kämpfen, ist durchaus eine groteske Darstellung der "monde renversé", also der verkehrten Welt. Das ist eine Welt, die durcheinander geraten ist, in der die Rollen vertauscht sind und in der zum Beispiel Schildkröten fliegen können oder Hasen einen gefesselten Jäger tragen. Meist wurde so eine gute Portion Gesellschaftskritik und Spott transportiert.
Doch wie werden die Ritter durch den Kampf gegen die gigantischen Schnecken verspottet?
Die Haupttätigkeit der Ritter ist natürlich der Kampf gegen andere Ritter. Wenn sich in der höfischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts zwei unbekannte Ritter begegnen, dann endet das Treffen praktisch immer in einem Kampf - meist ohne dass vorher viele Worte gewechselt werden. Im Artusroman "Iwein" von Hartmann von Aue stürzt sich der Protagonist andauernd in Zweikämpfe mit unbekannten Rittern, um seinen Rang zu beweisen. Einem wilden Mann im Wald erklärt der Ritter Kalogrenant zu Beginn des Romans, was es mit dem Lebens als Ritter auf sich hat:
Der Spott liegt also möglicherweise darin, dass der Ritter blind jedes gepanzerte Lebewesen angreift - weil er in der gigantischen Schnecke einen gegnerischen Ritter erblickt. Der Kampf gegen die übergroße Schnecke könnte also die unreflektierte Kampfeslust der Ritter verspotten.
Die Abbildungen von Rittern, die gegen übergroße Schnecken kämpfen, ist durchaus eine groteske Darstellung der "monde renversé", also der verkehrten Welt. Das ist eine Welt, die durcheinander geraten ist, in der die Rollen vertauscht sind und in der zum Beispiel Schildkröten fliegen können oder Hasen einen gefesselten Jäger tragen. Meist wurde so eine gute Portion Gesellschaftskritik und Spott transportiert.
Doch wie werden die Ritter durch den Kampf gegen die gigantischen Schnecken verspottet?
Die Haupttätigkeit der Ritter ist natürlich der Kampf gegen andere Ritter. Wenn sich in der höfischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts zwei unbekannte Ritter begegnen, dann endet das Treffen praktisch immer in einem Kampf - meist ohne dass vorher viele Worte gewechselt werden. Im Artusroman "Iwein" von Hartmann von Aue stürzt sich der Protagonist andauernd in Zweikämpfe mit unbekannten Rittern, um seinen Rang zu beweisen. Einem wilden Mann im Wald erklärt der Ritter Kalogrenant zu Beginn des Romans, was es mit dem Lebens als Ritter auf sich hat:
Sieh her, welche Rüstung ich trage.Doch warum jetzt ausgerechnet Schnecken? Vielleicht ist das die Erklärung: Genauer betrachtet sind Schnecken mit ihrem starken Haus, das sie vor Angriffen schützt, den Rittern mit ihrer Rüstung eigentlich gar nicht so unähnlich.
Man nennt mich Ritter, und ich habe die Absicht
auszureiten auf der Suche
nach einem Mann, der mit mir kämpfe
und der Waffen trägt wie ich.
Schlägt er mich, so bringt ihm das Ruhm ein,
siege aber ich über ihn,
so sieht man einen Helden in mir,
und meine Würde wächst.
(Hartmann von Aue, Iwein. Text und Übersetzung. 4., überarbeitete Auflage, Berlin/New York 2001, v. 529-537.)
Der Spott liegt also möglicherweise darin, dass der Ritter blind jedes gepanzerte Lebewesen angreift - weil er in der gigantischen Schnecke einen gegnerischen Ritter erblickt. Der Kampf gegen die übergroße Schnecke könnte also die unreflektierte Kampfeslust der Ritter verspotten.
Man kann dem Ritter seinen angespannten Gesichtsausdruck nicht verdenken - schließlich hat er es mit einer wirklich gigantischen Schnecke zu tun. (Abbildung: Gorleston Psalter, 1310-1324, Add MS 49622, f. 193v) |
2. Ein Symbol für die Feigheit der Lombarden
Lilian Randall hat bereits 1962 die Abbildungen der Schnecken analysiert und ist dabei zu dieser These gelangt: Für sie sind die Abbildungen als Verspottung der Italienern zu verstehen, die in Nordfrankreich und Flandern in der Zeit um 1300 recht unbeliebt waren und die man für besonders feige hielt.
Für die Feigheit der Italiener hatte man sogar ein historisches Beispiel: Karl der Große zog im Jahr 772 mit seinem Heer nach Italien gegen die Langobarden. Kaum hatten die Langobarden jedoch den Frankenkönig erblickt, sollen sie in großer Panik geflohen sein, statt sich in der Schlacht zu stellen.
Noch im 12. Jahrhundert erinnert man sich in Frankreich lebhaft an die feige Flucht der Langobarden. Das Wissen um die Feigheit der Italiener wurde in dieser Zeit in ein sehr anschauliches sprachliches Bild gefasst: Die Italiener, so erzählt man sich, sind so feige, dass sie sogar Angst vor Schnecken haben! Beim Geschichtsschreiber Jacques de Vitry wird Feigheit sogar zum typischen Charaktermerkmal aller Italiener. (Die Engländer kommen nicht viel besser weg, die hält Jacques de Vitry für harte Säufer) Ganz allgemein galt im Mittelalter die Schnecke als ein Symbol für die Feigheit, schließlich kriecht die Schnecke auf ihrem Bauch herum und versteckt sie sich bei der kleinsten Gefahr sofort in ihrem harten Haus, das sie immer und überall dabei hat.
Für Lilian Randall gibt es einen eindeutigen Grund, warum die Langobarden in Nordfrankreich um 1300 ganz besonders zum Ziel von Spott und Kritik wurden. Denn die Italiener hatten sich zu dieser Zeit in ganz Nordeuropa als Geldwechsler und Kreditgeber etabliert. Und wer in diesen Branchen tätig ist, zieht naturgemäß recht schnell den Zorn seiner Mitmenschen auf sich. Den italienischen Bankiers ging es wohl nicht anders. Da kam die alte Geschichte von der Feigheit der Italiener natürlich ganz gelegen.
Durch die Zeichnungen von Rittern, die gegen Schnecken kämpfen, sollten also vielleicht die italienischen Geldwechsler und Bankiers als Feiglinge verspottet werden.
Für die Feigheit der Italiener hatte man sogar ein historisches Beispiel: Karl der Große zog im Jahr 772 mit seinem Heer nach Italien gegen die Langobarden. Kaum hatten die Langobarden jedoch den Frankenkönig erblickt, sollen sie in großer Panik geflohen sein, statt sich in der Schlacht zu stellen.
Noch im 12. Jahrhundert erinnert man sich in Frankreich lebhaft an die feige Flucht der Langobarden. Das Wissen um die Feigheit der Italiener wurde in dieser Zeit in ein sehr anschauliches sprachliches Bild gefasst: Die Italiener, so erzählt man sich, sind so feige, dass sie sogar Angst vor Schnecken haben! Beim Geschichtsschreiber Jacques de Vitry wird Feigheit sogar zum typischen Charaktermerkmal aller Italiener. (Die Engländer kommen nicht viel besser weg, die hält Jacques de Vitry für harte Säufer) Ganz allgemein galt im Mittelalter die Schnecke als ein Symbol für die Feigheit, schließlich kriecht die Schnecke auf ihrem Bauch herum und versteckt sie sich bei der kleinsten Gefahr sofort in ihrem harten Haus, das sie immer und überall dabei hat.
Für Lilian Randall gibt es einen eindeutigen Grund, warum die Langobarden in Nordfrankreich um 1300 ganz besonders zum Ziel von Spott und Kritik wurden. Denn die Italiener hatten sich zu dieser Zeit in ganz Nordeuropa als Geldwechsler und Kreditgeber etabliert. Und wer in diesen Branchen tätig ist, zieht naturgemäß recht schnell den Zorn seiner Mitmenschen auf sich. Den italienischen Bankiers ging es wohl nicht anders. Da kam die alte Geschichte von der Feigheit der Italiener natürlich ganz gelegen.
Durch die Zeichnungen von Rittern, die gegen Schnecken kämpfen, sollten also vielleicht die italienischen Geldwechsler und Bankiers als Feiglinge verspottet werden.
3. Sozialer Aufstieg: Oben gegen unten
Die Schnecke galt im Mittelalter nicht nur als Inbegriff der Feigheit, sondern auch als Symbol für den Schleimer (im wahrsten Sinne des Wortes), der sich auf seiner Schleimspur aus seinem Schneckenhaus zu höheren Posten emporarbeitet. Doch auch eine gegenteilige Interpretation scheint möglich: Die Schnecke in ihrem sicheren Gehäuse kann auch eine Satire auf die mächtigen Adeligen des Mittelalters verstanden werden, die sich in ihren Festungen verschanzen und das einfache Volk ausbeuten und verspotten.
Hier kämpft ein Ritter gegen gleich zwei Schnecken - damit es trotzdem fair zugeht, hat er den Unterkörper eines kräftigen Drachen! (Abbildung: Queen Mary Psalter, 1310-1320, Royal MS 2 B VII, f. 148r) |
4. Die Schnecke als Symbol der Auferstehung und des Todes
Im 19. Jahrhundert hat der französische Historiker mit dem wohlklingenden Namen Jean-François-Auguste, comte de Bastard d'Estang vorgeschlagen, die Schnecke als Symbol für die Auferstehung von den Toten zu verstehen. Dafür hat er zwei Argumente: Erstens soll die Schnecke, die ihren Kopf aus ihrem Haus streckt, eine Allegorie für die Auferstehung sein und zweitens findet sich die Abbildung einer Schnecke in einer Handschrift direkt neben der Textstelle, in der es um die Erweckung des Lazarus geht. Warum jetzt aber Ritter mit Lanzen und Schwertern ausgerechnet auf das Symbol der Auferstehung losgehen, das kann auch der Comte de Bastard nicht erklären. In einem weiteren Blog-Artikel hat Lisa Spangenberg den Kampf zwischen Schnecke und Ritter dagegen als Symbol für die Unausweichlichkeit des Todes gedeutet. Dabei stützt sie sich auf ein Zitat aus Psalm 58:
Sie sollen sein wie eine Schnecke, die dahingeht und zerfließt,Wie die Schnecke, wird auch der Ritter eines Tages "dahingehen und zerfließen".
wie die Fehlgeburt einer Frau, welche nie die Sonne sah!
Im Kampf gegen diese enorme Schnecke hat unser tapferer Ritter nichts anderes als sein Schild und einen Knüppel - ob das reicht? (Abbildung: Smithfield Decretals, 1300-1340, Royal MS 10 E IV, f. 107r) |
5. Die Schnecke als Symbol der weiblichen Sexualität
Eine letzte Deutungsmöglichkeit will ich euch nicht vorenthalten: Es gibt die Ansicht, dass der Kampf des Ritters gegen die Schnecke ein Symbol für Sex ist. Lanze, feuchte Schnecke - mehr muss man dazu wohl nicht sagen.
Schnecken so weit das Auge reicht - und keine endgültige Antwort
Die große Zahl an möglichen Deutungen für diese sehr ungewöhnliche Darstellung zeigt: So recht weiß keiner, was es mit den gigantischen Schnecken auf sich hat. Zudem tauchen Schnecken in mittelalterlichen Handschriften auch noch in anderen Zusammenhängen auf. So gibt es zum Beispiel auch Abbildungen von Affen, die gegen Schnecken kämpfen. Oft sind die Gegner der Schnecken nämlich gar keine Ritter, sondern Bauern oder Schneider. Es bleibt abzuwarten, ob die Forschung in Zukunft die Bedeutung des Kampfes zwischen Ritter und Schnecke eindeutig erklären kann.
Ein Affe im Kampf gegen eine Schnecke. (Abbildung: Gorleston Psalter, England (Suffolk), 1310-1324, Add MS 49622, f. 210v) |
Literatur zu Rittern, die gegen Schnecken kämpfen
Randall, Lilian: The Snail in Marginal Warfare. In: Speculum 37 (1962), S. 358-367.
Camille, Michael: Image on the Edge. London 1992, S. 31-36.
2 Kommentare
Immer wieder fasziniert mich das Symbolismus in verschiedenen Bereichen und jetzt noch ein Beispiel davon! Ihre Rätsel ist ja interessant zu deschiffrieren :) Vielen Dank für den tollen Bericht! Weiter so :)
AntwortenLöschenLG
Tobias
Punkt 2 kann nicht stimmen, zumindest nicht so, wie hier dargestellt. Denn die Langobarden waren weder Italiener noch "Lombarden" wie in der Zeit der Renaissance, sondern einfach ein germanisches Volk, das sich gegenüber den Franken nicht wirklich kampflos ergab. Geblieben ist der Name der Region (Lombardei, it. Lombardia), benannt eben nach den Langobarden.
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