Kulturgeschichte
Spätmittelalter
Essen & Trinken im Mittelalter: Die Sitte des Zutrinkens
Oktober 26, 2016Essen und Trinken dienten im
Mittelalter nicht nur dem Zweck satt zu werden. Das gemeinsame Mahl hatte als
gesellige Zusammenkunft auch eine soziale Funktion – vor allem in
Adelskreisen. Die gemeinsame Tafel - das Gelage - verbindet die einzelnen Teilnehmer zu einer
Gruppe und verstärkt gleichzeitig diese Gruppenzugehörigkeit jedes Mal von
Neuem. Oft bilden sich im Rahmen dieser Gelage bestimmte Rituale,
Sitten und Regeln heraus, die von den Teilnehmern beachtet werden müssen. Ich
möchte heute ein solches Ritual aus dem Spätmittelalter vorstellen: Die Sitte des Zutrinkens.
Die Sitte des Zutrinkens: Der Zwang zum Trinken
Das Zutrinken ist eine rituelle
Form des Alkoholkonsums von zwei Personen: Der eine beginnt, indem er auf das
Wohl des anderen sein Getränk komplett leert. Der Angesprochene hat nun keine
Wahl: Er muss seinen Becher ebenfalls in einem Zug leeren – denn das abzulehnen
wäre eine schwere Beleidigung der anderen Person. Als „erzwungenes Mitsaufen“
(Ernst Schubert) lässt sich das Zutrinken wohl am besten bezeichnen. Am Ende
des Mittelalters, um das Jahr 1500, erfreut sich das Ritual des Zutrinkens
besonders unter Adeligen größter Beliebtheit: Auf dem Reichstag von 1521 sollen
zum Beispiel 72 Adelige in nur einer Nacht 1200 fränkische Maß Wein getrunken
haben – fast 17 Maß pro Kopf! Obwohl das Zutrinken als Freundschaftsritual im
späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit einen Höhepunkt erlebt, ist es zu dieser Zeit längst keine
neue Erfindung mehr.
Reichstag zu Worms, 1521: Martin Luther muss sich vor dem Kaiser für seine reformatorischen Thesen zur Kirche rechtfertigen. Wie nüchtern die Adeligen während der Verhandlung waren und ob der Reformator von der Sitte des Zutrinkens verschont blieb, ist nicht bekannt. (Kolorierter Holzschnitt, 1557, Abbildung: Wikimedia Commons). |
Kritische Geistliche und trinkfeste Adelige
Für das frühe Mittelalter gibt es
leider keine schriftlichen Quellen, die uns mehr über den Ablauf und die
Verbreitung des Zwangs zum Mittrinken berichten. Doch weil Pfarrer und Mönche
schon in der Zeit der Karolinger immer wieder Schriften verfassen, in denen sie
dieses Ritual scharf kritisieren, muss es wohl schon damals einigermaßen
bekannt gewesen sein. Um 1300 regt sich dann der Schriftsteller Hugo von Trimberg über
Männerrunden auf, bei denen es Sitte ist, denjenigen zu trainieren, der nicht
viel Alkohol verträgt: „Swer niht kann trinken, daz er ez lerne.“
„Giuz in“,also „gieß rein“, ist der Befehl dazu.
Der Humanist Aeneas Silvius Piccolomini (1405–1464) berichtet von sächsischen Studenten, die in hemmungslosen Trinkwettbewerben um das Ansehen ihrer Kommilitonen und Saufkumpanen kämpfen. Glaubt man Antonius Campanus, dann sind die Gelage der Adeligen auf dem Reichstag von 1471 vollkommen ausgeufert: „Hier gibt es kein anderes Leben als Trinken.“ Das Zutrinken wird in Adelskreisen an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert zur absoluten Lieblingsbeschäftigung.
Der Humanist Aeneas Silvius Piccolomini (1405–1464) berichtet von sächsischen Studenten, die in hemmungslosen Trinkwettbewerben um das Ansehen ihrer Kommilitonen und Saufkumpanen kämpfen. Glaubt man Antonius Campanus, dann sind die Gelage der Adeligen auf dem Reichstag von 1471 vollkommen ausgeufert: „Hier gibt es kein anderes Leben als Trinken.“ Das Zutrinken wird in Adelskreisen an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert zur absoluten Lieblingsbeschäftigung.
Aeneas Silvius Piccolomini berichtet von Trinkgelagen und der Sitte des Zutrinkens unter sächsischen Studenten. Die Abbildung zeigt Aeneas nach seiner Wahl zu Papst Pius II. (Abbildung: Wikimedia Commons) |
Langeweile und ein ganz besonderes Glas
Doch wieso erfreut sich das
Zutrinken zu dieser Zeit einer so großen Beliebtheit? Eine wichtige Veränderung
der Tischsitten ist von grundlegender Bedeutung: In den vorherigen
Jahrhunderten kreist ein einzelner Becher reihum zwischen den Teilnehmern der
höfischen Tafel. Leert einer der Speisenden den Becher komplett, so zieht er
dadurch höchstens den Zorn seiner Tischnachbarn auf sich – und muss für
Nachschub sorgen. Im 15. Jahrhundert erhält dann jeder Teilnehmer ein eigenes
Trinkgefäß, das jedoch wegen seines spitzen Fußes nicht auf dem Tisch abgestellt
werden kann. So ist man gleich doppelt zum Austrinken gezwungen: Durch Glasform
und Tischgenossen. Einen weiteren Aspekt sollte man nicht unterschätzen: Im
Spätmittelalter bilden sich immer mehr feste Residenzen – und dort kann das adelige
Leben schnell langweilig werden. Das maßlose Trinken ist so einerseits eine
Reaktion auf die Langeweile und andererseits auch eine Möglichkeit, um sich
beim Trinkgelage Ansehen außerhalb der offiziellen höfischen Rangordnung zu
verschaffen. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1622–1676) schildert in
seinem „Simplicissimus“, wie bei einem solchen Gelage die Teilnehmer sich
gegenseitig dazu auffordern und beschwören „bei großer Herren und sonst lieber Freund oder bei seiner
Liebsten Gesundheit, den Wein maßweis in sich zu schütten, worüber manchem die
Augen übergingen und der Angstschweiß ausbrach; doch mußte es gesoffen sein.“
Das Imperium schlägt zurück: Verbote des Zutrinkens
Nicht alle wollen sich jedoch
diesem Zwang unterwerfen. Im Jahr 1547 lässt sich der Nürnberger Patrizier
Georg Toppler sogar allen Ernstes vom Papst ein Privileg ausstellen: Niemand dürfe
Toppler zum Trinken nötigen, heißt es in dem Dokument aus Rom. Auch die
Obrigkeit versucht die Sitte des Zutrinkens einzudämmen: Auf dem Wormser
Reichstag von 1495 wird erstmals das Zutrinken und das damit verbundene Exen
von alkoholischen Getränken verboten. Wie wenig erfolgreich dieses Verbot
jedoch ist, zeigt sich in den folgenden Jahren: Praktisch jeder Reichstag
spricht ein neues Verbot aus – doch bewirken die offenbar allesamt wenig. Den Schöpfern
solcher Zutrink-Verbote geht es dabei nicht um gesundheitliche und medizinische
Bedenken. Vielmehr sorgen sie sich, dass Gott auf die neue Sünde des Zutrinkens
mit der Bestrafung aller Menschen reagieren könnte. Die Syphilis, die in dieser
Zeit zum ersten Mal auftritt, wird von besorgten Geistlichen sofort als eine
solche Strafe Gottes gedeutet.
Das Christuskind straft die Menschheit mit Syhilis - weil die Adeligen es mit der Sitte des Zutrinkens übertreiben? (Joseph Grünpeck, Holzschnitt, 1496, Abbildung: Wikimedia Commons) |
Der Henker und die Zähne der Pferdehändler
Die Gesetze fordern im 15. und
16. Jahrhundert drastische Strafen für das verbotene Zutrinken. Wer dabei
erwischt wird, landet entweder am Pranger oder im Narrenhäuslein, einem Käfig
auf dem Marktplatz. Von einer besonders harten Bestrafung wissen wir aus
Regensburg: Dort hat der Rat im Jahr 1542 ein Gesetz gegen das Zutrinken
erlassen. Doch fremde Pferdehändler, die gerade in Regensburg einkehren, halten
sich nicht daran und fordern sich gegenseitig fleißig zum Trinken auf. Die
Strafe folgt sofort: Die Pferdehändler werden an den Pranger gestellt und der
Henker reißt jedem von ihnen einen Zahn aus!
Kampf gegen das mittelalterliche Trinken: Gemäßigt im Verein
Im Laufe des 15. Jahrhunderts
entstehen sogenannte „Mäßigungsvereine“: Das sind Vereinigungen von Männern,
die sich einer Mäßigung beim Trinken unterwerfen wollen. Das versichern sich die
Mitglieder gegenseitig gleich noch mit einem Gelübde. Unter den Mitgliedern
sind so prominente Köpfe wie zum Beispiel Kaiser Maximilian und Landgraf Philipp
von Hessen. Doch die Befürworter der Mäßigung kennen die Grenzen ihrer
Bemühungen: Als in Heidelberg 1524 hochrangige Adelige versprechen, sich nicht
am Zutrinken zu beteiligen, werden die Höfe und Residenzen in Norddeutschland
explizit ausgenommen. Denn, so weiß man, dort könne und dürfe man sich dem
Zutrinken ohnehin nicht verweigern.
Obwohl dieser "fröhliche Trinker" aus dem 17. Jahrhundert dem Zutrinken bestimmt nicht abgeneigt war, kann er sein Glas, den sogenannten Berkemeyer, auch abstellen. Es gab also keinen Zwang mehr, das Trinkglas ständig am Tisch kreisen zu lassen.(Frans Hals, A Militiaman Holding a Berkemeyer, Known as the ‘Merry Drinker’, circa 1630, Reijksmuseum) |
Trinken und Essen: Der feine neue Stil im 18. Jahrhundert
Erst ab etwa 1700 findet die
Sitte des Zutrinkens dann ein Ende. Jetzt dominieren in der höfischen Kultur
neue, feinere Formen: Kaffee, Tee und Schokolade – alles serviert auf edlem
Porzellan. Für das raue Zutrinken ist da kein Platz mehr. Und so stellt ein
Reisender 1731 erleichtert fest, dass „die abscheulichen Willkommenshumpen und
das viel Gesöff … nun in Deutschland sehr abgeschafft“ seien.
Dass es auch im 18 Jahrhundert nicht immer nur gesittet zuging zeigt dieses Bild eines unbekannten englischen Malers aus dem Jahr 1732. (Abbildung: Yale Center for British Art) |
Literatur zur Sitte des Zutrinkens und dem Trinkgelage im Mittelalter
Kohler, Alfred: Wohnen und
Essen auf den Reichstagen des 16. Jahrhunderts. In: Kohler, Alfred/Lutz,
Heinrich (Hg.): Alltag im 16. Jahrhundert. Studien zu Lebensformen in
mitteleuropäischen Städten, 1987
Krücke, Carl: Deutsche Mäßigkeitsbestrebungen und -vereine im Reformationszeitalter, AKG 7 (1909), S. 13-30.
Lutz, Elmar: Trinken und Zutrinken in der Rechtsgeschichte. In: Ebel, Friedrich (Hg.): Ferdinandina. Festschrift Ferdinand Elsener, ²1973, S. 56-73.
Voigt, Klaus: Italienische Berichte aus dem spätmittelalterlichen Deutschland. Von Francesco Petrarca bis Andrea de‘ Franceschi (1333–1492), Stuttgart 1973.
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