Ehelos und keusch: Der lange Weg zum Zölibat

Keine Ehe, kein Sex: So lautet das Ideal des Priesterdaseins in der katholischen Kirche. Doch der Zölibat, also das Versprechen e...

Keine Ehe, kein Sex: So lautet das Ideal des Priesterdaseins in der katholischen Kirche. Doch der Zölibat, also das Versprechen eines ehelosen und enthaltsamen Lebens, ist heute – auch innerhalb der katholischen Kirche – stark umstritten. Nicht nur der synodale Weg in Deutschland fordert aktuell eine Reform des Zölibats – doch der Papst schweigt. Und auch auf der Amazonas-Synode hielt Papst Franziskus weiter am Zölibat fest.

Obwohl der Zölibat uns heute selbstverständlich erscheint, ist er als strenge Vorschrift erst im 11. und 12. Jahrhundert konsequent vom Papsttum eingefordert worden – und auch das nur mit mäßigem Erfolg. Wir werfen einen Blick zurück auf die Entstehung des Zölibatsgedankens in der Antike, seine theologische und rechtliche Fundierung und vor allem auf die Unwirksamkeit der zahlreichen päpstlichen und bischöflichen Zölibatsforderungen während des gesamten Mittelalters. Auf dieser Spurensuche werden wir erfahren, wie langwierig der Weg zum Zölibat war und dass es sich dabei um ein menschgemachtes Gebot handelt, das sich nur langsam und gegen viele Widerstände im Zeitalter der Reformation durchsetzte.

Das Idealbild der christlichen Kleriker im Mittelalter: Ein Bischof betet mit weiteren Klerikern am Altar - rein und frei von Sünden aufgrund ihres enthaltsamen Lebenswandels. (Abbildung: British Library, Additional 18852, Hours of  Joanna I of Castile, entstanden 1486-1506, f. 135v.)

Die antiken Ursprünge der Zölibatsidee

Die Frage nach der Ehelosigkeit der Priester im Christentum reicht zurück bis in apostolische Zeit. In Erwartung der baldigen Wiederkehr von Jesus Christus wurde von den ersten Christen ein Leben in Ehelosigkeit bevorzugt – wozu auch heiraten, wenn die Rückkehr des Messias unmittelbar bevorstand. Weil auch die neuplatonischen und gnostischen Lehren die Überordnung des Geistes über den Körper propagierten, neigten die engagierten Christen der Frühzeit tendenziell ohnehin zur sexuellen Enthaltsamkeit. Doch es gab freilich noch keine festen rechtlichen Normen, die die Sexualität und den Lebensstand der Geistlichen regeln. Bis dahin sollte es noch einige Jahrhunderte dauern.

Als sich in der Antike das Christentum dann zu etablieren begann, war die neue religiöse Strömung auch offen für Einflüsse anderer Kulte und Kulturen. Denn Menschen, die ihre alte Religion zurückließen, um Christen zu werden, hatten dennoch die Erwartung, auch in der neuen Religion bestimmte gelernte und tradierte Kultpraktiken gewahrt zu wissen – zum Beispiel die Reinheit der Priester.

Denn im Judentum – aber nicht nur dort – mussten Priester (oder auch Propheten und andere Weisen) während ihres Tempeldienstes enthaltsam leben, um so ihre kultische Reinheit zu bewahren. Nur so konnten sie Zugang zur göttlichen Weisheit erlangen. Deshalb mussten diese Personen (zumindest zeitweise) keusch leben, um im entscheidenden Moment die kultischen Rituale durchzuführen. Ganz ähnliche Vorstellungen sind übrigens noch heute im Sport im Vorfeld wichtiger Spiele oder Turniere verbreitet.

Diese antiken Askesevorstellungen beeinflussten auch das junge Christentum. Im Unterschied zu den Priestern anderer antiker Kulte mussten christliche Priester jedoch täglich den Gottesdienst feiern können – ihre kultische Reinheit musste also 365 Tage im Jahr gewahrt sein.

Ein zweiter wichtiger Einfluss war das asketische Mönchtum, das in der antiken Welt des Mittelmeers eine hohe Wertschätzung genoss. Dass zudem viele der ersten christlichen Bischöfe selbst Mönche waren, trug zusätzlich dazu bei, dass entsprechende Gedanken den Kurs der Kirche lenkten. In diesen Kreisen (zu denen illustre Personen wie Athanasius, Gregor von Nyssa oder Johannes Chrysostomus zählten) genoss ein eheloses Leben die höchste Wertschätzung während die Sexualität als widernatürlich gescholten wurde. Nur durch Enthaltsamkeit war in ihren Augen eine Rückkehr zur wahren Natur des Menschen möglich. Ungeachtet dieser gelehrten Diskurse waren verheiratete christliche Priester weiterhin aber die Norm.

Johannes Chrysostomus gilt als einer der eifrigsten Verfechter eines ehelosen Lebens für Geistliche. (Abbildung: Wikimedia Commons, Mosaik aus dem 11.Jahrhundert im byzantinischen Kloster Hosios Lukas in Griechenland.)

Die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion unter Kaiser Theodosius (gest. 395) wirkte dann wie ein Katalysator auf die kirchliche Organisation und Praxis: Durch die enge Bindung des Christentums an die Herrscher wuchs das Vermögen der Kirche massiv an, gleichzeitig machte die wirtschaftlich schwierige Gesamtsituation das Priesteramt für viele Männer attraktiv. Schließlich lockten dort eine gesicherte Stellung – von der auch die nachfolgenden Generationen profitieren sollten.

Denn im Judentum und vielen anderen Religionen und Kulten war das Priesteramt erblich – diese Erwartung hatte man nun auch an das Christentum. Doch entsprechende Bestrebungen scheiterten wiederholt am Widerstand der Bischöfe, die vermeiden wollten, dass kirchliche Ämter mit der Zeit auch an wenig geeignete Personen fallen könnten. Auch bestand die Gefahr, dass Kirchenbesitz so mit der Zeit zum erblichen Privatbesitz einer Priesterfamilie entfremdet wurde. Den Kern dieser Auseinandersetzung bildete natürlich eine ganz andere Frage: Sollten Priester überhaupt in sexuellen Beziehungen leben und Kinder bekommen?

Weil es im 4. und 5. Jahrhundert noch keine allgemein anerkannte oberste kirchliche Instanz gab, die sich mit solchen Fragen beschäftigen und verbindliche Regeln und Gesetze für alle festlegen konnte (wie später dann der Papst), mussten Entscheidungen über solche innerkirchliche Belange in Form von regionalen Versammlungen und Synoden diskutiert und beschlossen werden. Entsprechend uneinheitlich waren die gefundenen Regelungen zur Priesterehe und zum Zölibat deshalb.

Einen ersten Versuch, die Kleriker zu einem enthaltsamen Leben zu verpflichten, unternahm die Synode von Elvira (in der Nähe von Granada in Spanien) um 300. Wie schwierig das Unterfangen war, zeigt der gefundene Kompromiss: Höhere Kleriker, die bereits verheiratet waren, durften ihre Frauen behalten, mussten nach der Weihe jedoch enthaltsam leben. Alle niedrigeren kirchlichen Ränge (wie der Ostiarius, der Lektor, der Exorcista oder der Akolytha) durften weiterhin mit ihren Frauen in sexuellen Beziehungen zusammenleben.

Ähnliche Regelungen wurden auf den Synoden von Karthago (390), Orange (441) und Agde (506) gefunden: Für Inhaber der höheren kirchlichen Weihen sollte ein Enthaltsamkeitszölibat gelten. Die Teilnehmer auf dem Ersten Konzil von Nizäa (325) entschieden dagegen strikter: Allen Klerikern sollte es fortan verboten sein, mit Frauen zusammenzuleben – außer es handelte sich um „unverdächtige“ Frauen wie Mütter, Schwestern oder Tanten. Doch diese strenge Auslegung setzte sich zunächst nicht durch.

Als gemeinsame Basis galt in den nächsten Jahrhunderten, dass Bischöfe, Priester und Diakone vor ihrer Weihe zwar verheiratet sein durften, danach aber enthaltsam leben mussten. Eine Heirat nach der Weihe war verboten. In der Ostkirche sah man die Sache ein wenig lockerer: Eine vor der Weihe eingegangene Ehe konnte von Klerikern problemlos weitergeführt werden, lediglich die Bischöfe sollten zölibatär leben. Noch heute gilt in der Ostkirche das Eheverbot für Bischöfe, den übrigen Klerikern dagegen sind die Ehe und sexuelle Beziehungen erlaubt.

Wie erfolgreich diese Bestimmungen und Anordnungen bis zum 11. Jahrhundert waren, lässt sich heute nicht seriös einschätzen. Statistische Aussagen über den Anteil verheirateter Priester sind auf Basis der verfügbaren Quellen für diese Zeit schwierig bis unmöglich. Eines wird beim Studium der vielfältigen Zölibatsbestimmungen aber deutlich: Dass sie immer und immer wieder diskutiert und veröffentlicht wurden, ist ein guter Hinweis darauf, dass sie offenbar nicht besonders wirksam waren. Wir wissen, dass selbst unter den römischen Bischöfen eine ganze Reihe von Priestersöhnen war – zum Beispiel Bonifatius I. (gest. 422), Felix III. (gest. 530), Agapet (gest. 536), Silverius (gest. 537), Adeodatus I. (gest. 618) oder Theodor I. (gest. 649), dessen Vater sogar Bischof von Jerusalem war.

Erschwerend kam hinzu, dass viele Kirchen von der materiellen Ausstattung durch den Grundherrn abhängig waren. Auch bei der Besetzung von Kirchenämtern machte der Grundherr seinen Einfluss geltend, was oft zu regelrechten „Priesterdynastien“ aus einer Familie führte.

Generell lässt sich festhalten, dass in Antike und Frühmittelalter die Weihe von Verheirateten problemlos möglich war. Lediglich die Eheschließung von Klerikern nach der Weihe war verboten. Bei den Zölibatsbestimmungen ging es hauptsächlich um die Enthaltsamkeit verheirateter Kleriker. Ernsthaft und konsequent durchgesetzt wurde all das von der kirchlichen Obrigkeit jedoch nicht. Die Söhne von Klerikern finden sich wiederum ebenfalls häufig in kirchlichen Laufbahnen wieder.

Ein Mönch fungiert als Richter bei Ehestreitigkeiten - mehr sollten die Geistlichen im Mittelalter nicht in das Thema Ehe involviert sein. Eigentlich. (Abbildung: British Library, Royal 11 D IX, DecretumGratiani, entstanden um 1300, f. 269v.)

Die konsequente Forderung der Kirchenreformer nach dem Zölibat

Das änderte sich im 11. Jahrhundert. Mit dem Reformpapsttum war inzwischen eine kirchliche Autorität entstanden, die sich selbst als Schaltzentrale der Christenheit verstand und Päpste hervorbrachte, die den Anspruch hatten, allgemein gültige Vorschriften zu verfassen. Dieses neue Selbstverständnis verband sich mit dem Bemühen um eine Reform der Kirche in den Bereichen Simonie, freie kirchliche Wahlen und auch Zölibat.

Denn in der funktionalen Dreiteilung der christlichen Gesellschaft in Bauern (Ernährung), Ritter (Schutz und Frieden) und Kleriker (Seelenheil) hatte die dritte Gruppe nach Meinung der Kirche die wichtigste Funktion - in ihren Händen lag schließlich das ewige Leben und das Seelenheil aller Menschen. Wer diese Verantwortung inne hatte, der musste rein sein und ein untadeliges Leben führen.

Der Benediktinermönch, Kirchengelehrte und Kardinal Petrus Damiani (gest. 1072) war einer der lautesten Propagandisten des Zölibats. Als Eremit forderte er die „Verachtung der Welt“ und betrachtete sexuellen Verkehr selbst innerhalb der Ehe als sündhaft. Für ihn stand fest, dass Priester unbedingt von dieser Versuchung zur Sünde ferngehalten werden mussten und in Ehelosigkeit leben sollten.

Den Ausgangspunkt für die konsequenter werdende Forderung nach dem Zölibat bildete das Konzil von Bourges (1031). Die bekannten Eheverbote für höhere Kleriker wurden wiederholt und ergänzt um Regelungen, die Kinder von Klerikern für illegitim erklärten. Außerdem wurde ein generelles Verbot der Klerikerehe festgelegten und eine völlige Trennung der Lebenswelt von Klerikern und allen Frauen geforderten. Die Weihe verheirateter Kleriker wurde jedoch nicht untersagt.

Neues Momentum erhielt die Durchsetzung des Zölibats dann durch das Papsttum: Papst Leo IX. (1049–1054) vertrat auf einer Synode im Jahr 1049 bereits zölibatäre Forderungen. Papst Nikolaus II. (1059–1061) verschärfte den Ton und verbot, dass verheiratete Kleriker die Messe feiern oder das Evangelium lesen durften. Allen Gläubigern wurde die Teilnahme an den Gottesdiensten solcher Priester verboten.

Papst Gregor VII. (1073–1085) verfügte schließlich, dass nur noch enthaltsame Kleriker an den Altar treten durften und versuchte die Beschlüsse zum Zölibat deutlich energischer durchzusetzen als seine Vorgänger.

Doch ungeachtet dieser Reformbemühungen im fernen Rom sah die Realität vor Ort weiterhin ganz anders aus: Kaum ein kirchliches Amt wurde ohne weltlichen Einfluss besetzt, Priesterstellen dienten oft zur Versorgung von Angehörigen und Priester auf dem Land waren ohnehin auf die Unterstützung einer Ehefrau bei der Haushaltsführung und der Bewirtschaftung ihrer Güter angewiesen.

Die wichtigste schriftliche Fixierung des Zölibatgebots im Mittelalter erfolgte dann schließlich auf dem Zweiten Laterankonzil im Jahr 1139, das unter dem Vorsitz von Papst Innozenz II. in Rom stattfand: Die Enthaltsamkeit wurde nun für die Gesamtkirche festgeschrieben und die Weihe als Ehehindernis etabliert. Konkret wurde es allen Klerikern – den niederen und den höheren – verboten, nach der Weihe zu heiraten. Laien wurde der Besuch von Messen verheirateter Priester verboten und Priestersöhne durften nicht selbst Kleriker werden.

Ein Priester betet am Altar. Nach offizieller Lehre sollte er dafür ein enthaltsames und eheloses Leben führen. Die Realität sah im Mittelalter jedoch oft ganz anders aus. (Abbildung: British Library, Harley 2915, Book of Hours, Useof Sarum, entstanden 1440/60, f. 84.)


Umsetzung und Wirksamkeit der Zölibatsforderung

Doch wie stand es um die Durchsetzung dieser Regeln innerhalb der Kirche? Die kirchliche Obrigkeit verfügte zwar über eine Reihe von Sanktionen – die vom Aufruf zum Boykott durch die Gläubigen bis hin zum Entzug der Pfründe und der Absetzung des Klerikers reichten – doch trafen die Zölibatsvorgaben häufig auf lokalen Widerstand.

In Italien, Frankreich und Deutschland rebellierten eine Reihe von Klerikern im Nachgang des Zweiten Laterankonzils gegen den Zölibat und gegen die Bischöfe, die ihn durchsetzen sollen. In Erfurt erhoben sich die Kleriker gegen ihren Erzbischof, dem Erzbischof von Rouen drohte man mit Steinigung und auch der Bischof von Brescia wurde fast umgebracht, als er die neuen strengen Regeln verkündete. Aus Furcht vor den Reaktionen der Kleriker wagten es viele Bischöfe in Norditalien nicht, die Dekrete des Zweiten Laterankonzils zu verkünden.

Anders gestaltete sich die Lage in Mailand: Hier gab es eine religiöse Reformbewegung, die von der Massenvolksbewegung der Pataria getragen wurde. Die enthusiastischen Laien vertrieben dort unkeusche Priester sogar gewaltsam aus ihren Ämtern.

Neben diesen Beispielen ist auch die Existenz von Priesterkindern ein gutes Indiz für die Wirksamkeit der Bestimmungen. Als Priesterkinder sollen dabei alle Kinder gelten, von denen mindestens ein Elternteil zölibatär lebte – was Priester, aber auch Mönche, Nonnen, Subdiakone und Bischöfe umfasste.

Generell lässt sich festhalten, dass diese Priesterkinder einen erstaunlich hohen Anteil am Gesamtklerus ausmachten. Weil durch die Existenz von Kindern die Wahrscheinlichkeit stieg, dass Klerikerämter innerhalb der Familie an die nächste Generation weitervererbt wurden, wurden von Seiten der kirchlichen Obrigkeit das gesamte Mittelalter über ebenfalls eine Reihe von Gesetzen, Dekreten und Erlässen veröffentlicht, die den Priesterkindern einen illegitimen Status geben sollten.

Das Konzil von Toledo im Jahr 655 rückte im Fall der Priesterkinder zum Beispiel extra ausdrücklich von der bis dato geltenden Position ab, dass Kindern nicht für die Sünden ihrer Väter büßen sollten. Dem widersprechend wurde von den Konzilsteilnehmern festgelegt, dass die von höheren Klerikern nach ihrer Weihe gezeugten Kinder ihre Eltern nicht beerben durften und sogar der Kirche ihres Vaters als servi übereignet werden sollten.

Auch gegenüber den Priesterkindern verschärfte sich das Vorgehen der Kirche im 11. Jahrhundert: Papst Benedikt VIII. verkündete am 1. August 1022 auf der Synode in Pavia Bestimmungen gegen Klerikerkinder, die anschließend von Kaiser Heinrich II. auch für die Kirchen seines Reiches übernommen wurden. Von nun an sollten alle Kinder von Klerikern, die Hörige einer Kirche waren, ebenfalls Unfreie dieser Kirche sein – auch wenn die Mutter eine Freie war. Papst Leo IX. (gest. 1054) verfügte später sogar, dass auch alle Frauen, die sich in Rom mit Priestern eingelassen hatten, dem Lateranpalast als Unfreie dienen sollten. Insgesamt konzentrierten sich die Reformpäpste jedoch stärker auf den Kampf gegen die nichtenthaltsamen Kleriker.

Dennoch wurden fortan alle sexuellen Beziehungen von Klerikern (egal ob ehelicher oder unehelicher Natur) als fornicatio (Hurerei/Unzucht) bezeichnet. Die Frauen waren damit keine Ehefrauen, sondern Konkubinen (concubine) oder Dirnen (prostibula). Spätestens ab dem 13. Jahrhundert durften Priestersöhne aus legitimen Ehen (die also vor der Weihe geschlossen wurden), ihren Vätern nicht mehr unmittelbar in deren kirchlichem Amt nachfolgen. Doch auch dafür ergab sich oft schnell eine Lösung: Es fand sich meist eine dritte Person, die das Amt für eine kurze Zeit übernahm, dann zurücktrat und so den Weg für den Sohn freimachte.

Weil es zudem immer wieder zu Problemen bei der Nachbesetzung von Kirchenämtern kam, wurden diese eigentlich strengen Verbote durch Dispense immer wieder aufgehoben, um das vakante Amt doch mit einem Priestersohn zu besetzen. Die einzige Hürde dabei war, dass nur der Papst oder ein Bischof die Dispensgewalt besaßen, um einen Klerikersohn den ehelich geborenen Anwärtern gleichzustellen und sie in den Klerus aufzunehmen. Je besser die Beziehungen zur kirchlichen Obrigkeit also waren, desto einfacher gelang es, eine solche Ausnahmegenehmigung zu erhalten.

Die Fälle solcher Dispense sind zahllos: Papst Alexander II. dispensierte zum Beispiel den bereits gewählten Bischof von Le Mans und erlaubte ihm nachträglich die Bischofsweihe – obwohl er ein Priestersohn war. Papst Paschalis II. (gest. 1118) veröffentlichte sogar einen pauschalen Dispens für alle Priestersöhne in England und im Königreich Leon-Kastilien. Er sah sich zu diesem Schritt gezwungen, weil sonst die Kirchenorganisation in diesen Regionen aus Mangel an geeigneten Kandidaten schlicht zusammengebrochen wäre. Er ging sogar so weit einzugestehen, dass in England „fast der größere und bessere Teil der Kleriker“ von Klerikern abstammten und in Spanien die Priesterehe „allgemeine Gewohnheit des Landes“ sei.

Auch im restlichen Europa sah es nicht großartig anders aus: Im Erzbistum Köln wurden zwischen 1310 und 1352 gut 60 Priestersöhne dispensiert und in Friesland galt die Erbfolge in kirchlichen Ämtern sogar im Spätmittelalter noch als normal. Papst Innozenz IV. (gest. 1254) erlaubte insgesamt 6 Priestersöhnen und einem Bischofssohn die Weihe zum Bischof. Bernhard Schimmelpfennig schätzt, dass in Skandinavien und Spanien um 1300 etwa 10% bis 15% aller Geistlichen selbst Söhne von Priestern waren.

Durch die Häufigkeit solcher Vorkommnisse wird nochmals deutlich, dass der Zölibat von Klerikern auch im 13. Jahrhundert keinesfalls konsequent durchgesetzt war und es auch unter der höheren Geistlichkeit die Bereitschaft gab, Priestersöhne durch Dispense den Zugang zum Klerus zu gestatten.

Auch Beispiele für Priester mit Kindern und Frauen lassen sich im Mittelalter sehr häufig nachweisen. So fand der Offizial (der höchste bischöfliche Richter) Rudolf Losse in Trier seine ehemalige Konkubine in zwei öffentlichen Urkunden mit einem Haus ab. Über einen Pfarrer in einer süddeutschen Reichsstadt aus der Zeit um 1550 wissen wir:

„Sein Vater war ein Mönch, der im Konkubinat mit einer Pfaffentochter lebte. Der Mönch seinerseits stammte aus dem Konkubinat eines Kaplans mit einer Pfaffentochter, und die Mutter (die Pfaffentochter) stammte aus dem Konkubinat eines Pfaffen mit einer Pfarrköchin. Der Mannesstamm war zudem der Bastard eines Ritters und einer Pfarrköchin.“

Der Lütticher Bischof Heinrich von Geldern versorgte seine diversen Kinder sehr freigiebig mit Dispensen und verschaffte ihnen so Zugang zu den niederen Weihen. Das Lütticher St.-Lambert-Stift galt zu seiner Zeit sogar als „Versorgungsanstalt für Klerikersöhne“. Heinrich prahlte selbst damit, in 22 Monaten insgesamt 14 Söhne gezeugt zu haben!

In Nordfrankreich zeugte zu Beginn des 14. Jahrhunderts ein Diakon zwei Söhne, die beide Kanoniker der Kirche St. Pierre in Aire bei Therouanne wurden. Einer dieser Söhne zeugte ebenfalls zwei Söhne, die er als zuständiger Scholaster an der Stiftsschule sogar selbst erzog. Er versorgte seine Söhne mit kirchlichen Pfründen und natürlich folgte ihm auch einer seiner Söhne als Scholaster des Stifts nach und konnte so auch seinen Nachwuchs wieder versorgen.

Zu den prominentesten Beispielen für Kleriker, die ganz offen mit der Existenz eigener Kinder umgingen, zählen sicherlich Papst Innozenz VII. (gest. 1492) und der Renaissancepapst Alexander VI. (gest. 1503) aus der Familie Borgia. Letzterer lebte mit Vanozza de’Cattanei, der Mutter seiner Kinder, über 20 Jahre lang zusammen.

Die langsame Durchsetzung des Zölibats

Im 11. Jahrhundert wurden zwar durch das Reformpapsttum die relevanten rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ehelosigkeit und die Keuschheit von Klerikern im Mittelalter gelegt. Doch angesichts der aufgeführten Beispiele kann die Zölibatspolitik der Reformpäpste und ihrer Nachfolger getrost als gescheitert betrachtet werden. Die häufig wiederholten Bestimmungen gegen Priesterehen und Klerikersöhne sowie die Vielzahl an erhaltenen Dispensen sind eindeutige Indizien für die Wirkungslosigkeit der Zölibatsbestimmungen. Priesterehen waren vielmehr auch im Spätmittelalter noch ein Massenphänomen und genauso weit verbreitet wie im 11. Jahrhundert – nur dass sie inzwischen nach offizieller Lehre nun in schwerer Sünde lebten. Was jedoch offenbar wenig abschreckend wirkte.

Generell lässt sich festhalten, dass die Enthaltsamkeit von Klerikern bereits in der frühen christlichen Kirche hoch geschätzt wurde – auch wenn formale Forderungen nach einer zölibatären Lebensweise von Klerikern erst ab dem 4. Jahrhundert erhoben wurden. Dennoch waren Kleriker mit Ehefrauen und Kindern im Frühmittelalter der Normalzustand. Die Kirchenreform im 11. Jahrhundert versuchte sich dann darin, den Zölibat konsequenter durchzusetzen – doch die kirchenrechtlichen Bestimmungen wurden in der Realität nicht so streng gelebt und zusätzlich durch Ausnahmegenehmigungen von Seiten der kirchlichen Obrigkeit in Form von Dispensen wiederholt ausgehebelt. Zahlreiche satirische Texte und Pamphlete beweisen, dass den mittelalterlichen Zeitgenossen diese Diskrepanz zwischen Gesetzestext und gelebtem Alltag sehr bewusst war.

Es sollte noch bis ins Spätmittelalter dauern bis auf dem Tridentinum (1545–1563) das Enthaltsamkeits- und Ehelosigkeitszölibat (für die römisch-katholische Kirche) wirklich umfassend durchgesetzt wurden. Im Gegensatz dazu lehnten die reformierten Kirchen den Zölibat als Lebensform der Kleriker generell ab. So trug der Zölibat als Unterscheidungsmerkmal auch zur Konfessionalisierung bei – was seine Durchsetzung unter katholischen Klerikern dann deutlich förderte. Doch ein Selbstläufer war der Zölibat nie - auch heute nicht.

Literatur zur Entwicklung des Zölibats

Schimmelpfennig, Bernhard: Zölibat und Lage der Priestersöhne vom 11. bis 14. Jahrhundert. In: Kreuzer, Georg/Weiß, Stefan (Hgg.): Papsttum und Heilige. Kirchenrecht und Zeremoniell. Ausgewählte Aufsätze, Neuried 2005, S. 133-176.
Dusil, Stephan: Wissensordnungen des Rechts im Wandel. Päpstliche Jurisdiktion und Zölibat zwischen 1000 und 1215, Leuven 2018 (=Mediaevalia Lovaniensia. Series I / Studia XLVII).

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4 Kommentare

  1. Ich finde den Artikel sehr gelungen: er ist sachlich geschrieben, bleibt bei den Quellen und biedert sich keiner Seite an. Kompliment!

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  2. War nicht Papst Silverius sogar der Sohn von Papst Hormisdas?

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