Der Ochsen-Mann von Wicklow und andere merkwürdige Geschichten über Irland

Reiseberichte sind eine besonders interessante Gattung der mittelalterlichen Literatur. Allerdings sollte man nicht alles, was mit...

Reiseberichte sind eine besonders interessante Gattung der mittelalterlichen Literatur. Allerdings sollte man nicht alles, was mittelalterliche Autoren über fremde Länder und Kulturen zu wissen berichten, für bare Münze nehmen. Denn oft schrieben sie ihre Reiseberichte mit einer klaren politischen Absicht.

Ein Beispiel für einen solchen Reisebericht ist die Topographie Hibernica von Gerald von Wales, einem anglonormannischen Geistlichen. Gerald war Kaplan König Heinrichs II. Plantagenet von England und begleitete 1184 den Königssohn Johann (Ohneland) auf einem Kriegszug nach Irland.

Was er dabei über Irlands Natur und Kultur in Erfahrung brachte und in seinem Reisebericht festhielt, ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Denn Gerald berichtet nicht nur von Flüssen, schwimmenden Inseln und der Tierwelt Irlands, sondern auch von vielen wundersamen Begebenheiten und merkwürdigen Sitten. So verschwimmen schnell Realität und Fiktion in der Beschreibung Irlands durch Gerald von Wales.

Der Ochsen-Mann von Wicklow wird von einem Iren mit Nahrung versorgt. (Abbildung: British Library, Royal MS 13 B VIII, fol. 19r.)

Wunderliche Geschichten aus Irland

Gerald kann allerhand Wunder und merkwürdige Geschichten über Irland berichten – zum Beispiel über König Duvenald von Limerick. Der König hatte (laut Gerald) eine bärtige Ehefrau. Ihr Bart soll sogar so lang gewesen sein, dass er bis zu ihrem Nabel hinab reichte. Und auch ihr kompletter Rücken war angeblich behaart.

Die bärtige Frau von Limerick. (Abbildung: British Library, Royal MS 13 B VIII, fol. 19r.)

Auch andernorts in Irland will Gerald von der Existenz bärtiger Frauen wissen: Am Hof von Connaught etwa soll eine Frau gelebt haben, die zur Hälfte Mann und zur Hälfte Frau war. Die rechte Seite ihres Gesichtes war angeblich von einem langen, dichten Bart bedeckt während die linke Hälfte die zarten und weichen Gesichtszüge einer Frau hatte.

Die springenden irischen Lachse

In vielen von Geralds wundersamen Geschichten spielen auch Tiere eine zentrale Rolle. Gerald berichtet unter anderem von hüpfenden Lachsen in den irischen Flüssen. Denn nur so konnten die Lachse flussaufwärts schwimmen.

Der hüpfende Lachs von Munster. (Abbildung: British Library, Royal MS 13 B VIII, fol. 23r.)

Gerald zeigt sich hier als aufmerksamer Beobachter der Natur. Deshalb stellte er auch fest, dass die Hähne in Irland zu einer anderen Uhrzeit krähen als in anderen Ländern. Auch davon berichtet er seinen Lesern ausführlich. Doch Gerald hat noch mehr Tiergeschichten im Petto.

Der Fisch mit den goldenen Zähnen

Kurz bevor die Engländer nach Irland kamen, so berichtet Gerald in einem anderen Kapitel, wurde in Carlingford in Ulster ein gigantischer Fisch einer unbekannten Art gefunden. Seine drei Zähne waren besonders bemerkenswert: Sie waren aus purem Gold! Zwar ist sich selbst Gerald nicht ganz sicher, ob die Zähne nicht einfach nur verfärbt waren und deshalb golden erschienen. Doch das hindert ihn nicht, den Fund des Fisches als Zeichen für das „goldene Zeitalter“ zu deuten, das mit der Ankunft der Engländer für Irland beginnen sollte. Schließlich fand man zeitlich einen Hirsch im Wald von Durham in England, der ebenfalls goldene Zähne hatte.

Bling Bling: Ein Fisch und ein Reh mit goldenen Zähnen. (Abbildung: British Library, Royal MS 13 B VIII, fol. 16v.)

Der Bericht vom Fisch mit den goldenen Zähnen ist noch durchaus unterhaltsam, doch Gerald hat auch noch ganz andere Geschichten über die irische Tierwelt auf Lager. Vorsicht: Ab jetzt wird es unappetitlich!

Die Ziege und die Hofdame

So berichtet Gerald zum Beispiel von Roderic, dem König von Connaught, der eine zahme weiße Ziege besaß. Die Ziege hatte schönes langes Haar und beeindruckende Hörner. Die Ziege soll in der Tat so schön gewesen sein, dass die Frau, die die Ziege versorgen sollte, schließlich sogar Geschlechtsverkehr mit dem Tier hatte. Zumindest laut Gerald.

Eine Frau aus Connacht umarmt eine Ziege. (Abbildung: British Library, Royal MS 13 B VIII, fol. 19v.)

Der Ochsen-Mann von Wicklow

Doch es geht noch krasser: Gerald berichtet von einem Wesen, das halb Mensch und halb Ochse war. Dieses Wesen soll entstanden sein, weil irische Männer Sex mit Kühen hatten. Gerald berichtet ausführlich vom Schicksal des Ochsen-Mannes:

„In Wicklow, zu der Zeit als Maurice Fitzgerald dort das Land und die Burg besaß, sah man dort einen merkwürdigen Menschen – wenn man ihn überhaupt Mensch nennen kann. Denn der ganze Körper war zwar menschlich, doch die Extremitäten waren die eines Ochsen.

Von der Stelle, wo Hände mit den Armen und die Füße mit den Beinen verbunden sind, sahen sie aus wie die Hufe eines Ochsen. Sein Kopf war komplett haarlos und sowohl vorne als auch hinten deformiert. Statt Haaren hatte das Wesen vereinzelt Flaum. Die Augen waren groß und rund und hatten die gleiche Farbe wie die Augen eines Ochsen. Das Gesicht war flach, statt einer hervorstehenden Nase hatte der Ochsen-Mensch zwei Öffnungen als Nasenlöcher. Sprechen konnte das Wesen nicht, was er an Sprache wiedergab, klang wie das Muhen einer Kuh.

Der Ochsen-Mann von Wicklow. (Abbildung: British Library, Royal MS 13 B VIII, fol. 19r.)

Der Ochsen-Mann besuchte den Hof von Maurice eine Zeit lang. Er kam täglich zum Essen und was es dort an Nahrung gab, nahm er zwischen seine gespaltenen Hufe, die er wie Hände benutzte, und führte es so zum Mund.

Weil die jungen Männer der Burg die Iren oft dafür verspotteten, dass sie durch Geschlechtsverkehr mit Kühen solche Wesen zeugten, haben sie das Wesen schließlich aus Bosheit und Hasses im Geheimen ermordet, was er nicht verdient hatte.

Es ist bewiesen, dass kurz bevor die Engländer auf die Insel kamen, eine Kuh in den Bergen von Glendalough einen Menschen-Kalb auf die Welt brachte, das aus der Vereinigung zwischen einem Mann und der Kuh hervorgegangen war. Solche Laster kamen beim Volk dieser Gegend öfter vor. […]

Das Wesen folgte fast ein Jahr lang seiner Mutter mit den anderen Kälbern und trank aus ihrem Euter. Danach wurde es in die menschliche Gemeinschaft aufgenommen, denn es war mehr Mensch als Tier. Sollte derjenige, der das Wesen tötete, aber wirklich ein Mörder genannt werden?“

Die brutalen Rituale bei der Erhebung der irischen Könige

Auch die Rituale im Rahmen der Thronbesteigung eines neuen irischen Königs sollen laut Geralds Bericht unfassbar brutal und abstoßend sein. In Ulster sei es Tradition, so Gerald, dass eine weiße Stute öffentlich getötet wird. Ihr Fleisch und Blut wird in einem großen Topf gekocht und aus dem Eintopf ein Bad für den neuen König bereitet.

Blutiges Ritual: Die Erhebung der irischen Könige - zumindest nach Gerald von Wales. (Abbildung: British Library, Royal MS 13 B VIII, fol. 28v.)
Während der König im Pferde-Eintopf sitzt, essen er selbst und seine Anhänger das Fleisch der Stute. Erst durch dieses Ritual wird der neue König zum allgemein anerkannten Herrscher.

Geralds Motive hinter den abstoßenden Erzählungen

Gerald erzählte solche Geschichten als Beispiele dafür, wie primitiv die Bewohner Irlands seien. Seiner Meinung nach lebten die Iren noch wie wilde Tiere und waren den Tieren näher als den Engländern. Das ganze Werk ist durchzogen von solchen Unterstellungen, die dazu dienen sollten, die Eroberung Irlands durch die Engländer zu rechtfertigen.

Dennoch kann Gerald auch Positives über Irland und die Iren berichten. Die Felder und Wiesen seien fruchtbar und tragen reiche Ernte. Die Iren selbst seien vor allem herausragende Musiker. Keine Nation sei bessere darin, Musikinstrumente zu spielen als die Iren, so Gerald.

Trotz dieser positiven Worte bleibt Geralds Reisebericht natürlich krasse Propaganda gegen die irische Bevölkerung. Besonders die Berichte vom Geschlechtsverkehr zwischen Menschen und Tieren und den daraus hervorgegangenen Hybridwesen sollten untermalen, wie nahe Iren und Tiere sich waren. Die Brutalität der Iren und ihr sündiges Leben sollten die Eroberung der Insel durch die Engländer legitimieren.


So reagierten die Leser auf Geralds Reisebericht

Gerald trug seinen Reiseberich mehrfach selbst vor, etwa im März 1188, als er mit Erzbischof Baldwin von Exeter durch Wales reiste, um zum Dritten Kreuzzug aufzurufen. Im Winter 1187/88 las Gerald in Oxford drei Tage lang seinen kompletten Reisebericht vor.

Die schauderhaften Geschichten über die Sitten und Gebräuche auf Irland hatten einen prägenden Einfluss auf die Wahrnehmung der Iren in England. Noch im 16. Jahrhundert diente sein Werk dazu, die Eroberung Irlands und die Unterdrückung der Iren durch Königin Elisabeth zu rechtfertigen.

Doch auch die Kritik an Geralds Beschreibung von Irland wurde immer lauter. Irische Autoren wie Geoffrey Keating und Stephen White kritisierten Gerald und sein Werk massiv und arbeiteten sich daran ab, die Unterstellungen und Anschuldigungen zu entkräften. Bis heute bleibt das Werk Geralds von Wales ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie Propaganda funktioniert.

Literatur und Links zu Gerald von Wales und seinem Werk


Wer möchte, kann die ganze Topographia Hibernica im lateinischen Originaltext nachlesen. Auch eine englische Übersetzung ist im Netz zu finden. Sehr zu empfehlen ist aber auch ein Blick in die Handschrift der British Library, die man ebenfalls virtuell durchblättern kann. Die interessanten und teils skurrilen Illustrationen beginnen ab fol. 8v mit den Tieren der grünen Insel.

Wer mehr über Gerald von Wales und seine Zeit erfahren möchte, dem sei empfohlen:  Bartlett, Robert: Gerald of Wales 1146-1223, Oxford 1982.


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