Der Lothar-Kristall: Versöhnung oder Verhöhnung?

Der Lothar-Kristall ist eines der interessantesten Exponate im British Museum in London: Ein 12 Zentimeter großer Bergkristall ...

Der Lothar-Kristall ist eines der interessantesten Exponate im British Museum in London: Ein 12 Zentimeter großer Bergkristall auf dem eine geschickte Künstlerhand in der Mitte des 9. Jahrhunderts die alttestamentarische Erzählung von Susanna und den Alten im Bade eingraviert hat. In Auftrag gab den Kristall ein „Lothar, König der Franken“ („LOTHARIVS REX FRANCORVM“), soviel ist sicher.

Doch schon die Suche nach dem Auftraggeber wirft Fragen auf – schließlich gab es im 9. Jahrhundert mit Kaiser Lothar I. und seinem Sohn König Lothar II. gleich zwei fränkische Herrscher mit diesem Namen. Welcher Lothar war also der Auftraggeber? Und vor allem: Was wollte der Herrscher mit dem verzierten Kristall anfangen? Aus welchem Grund ließ ein fränkischer Herrscher ausgerechnet diese Geschichte auf einem Bergkristall darstellen? Welche Bedeutung hatte der Bergkristall für Lothar?

Der sogenannte Lothar-Kristall mit den kunstvollen Gravuren und einem goldenen Rahmen.
(Abbildung: Ashley Van Haeften, Wikimedia Commons.)


Die lange Reise des Lothar Kristalls: Aus unbekannten Ursprüngen nach London

Betrachten wir den Bergkristall erst einmal ein wenig genauer: Auf eingravierten acht Bildern wird die Geschichte von Susanna im Bade erzählt. Der Kristall ist heute von einem Rahmen aus Gold umgeben, den der Legende nach der Heilige Eligius (588–660) erschaffen haben soll. Das passt gut zu diesem Schutzpatron der Goldschmiede – allerdings stammt die Goldumfassung erst aus dem 15. Jahrhundert.

Die genauen Umstände der Entstehung sind unklar. Schriftlich greifbar wird der Kristall erstmals im 10. Jahrhundert als er in Reims als Pfand den Besitzer wechselt – im Tausch gegen ein Pferd. In der Chronik der belgischen Abteil Waulsort loben die Mönche im 12. Jahrhundert die Kunstfertigkeit mit der der Kristall graviert wurde.

In der belgischen Abtei wird der Kristall bis 1793 aufbewahrt – dann landet er im Rahmen der Französischen Revolution mit vielen anderen Kirchenschätzen im Fluss und wird dabei beschädigt. Es wird noch abenteuerlicher: Im 19. Jahrhundert wird der Kristall gestohlen und taucht ohne Rahmen wieder in Belgien auf. Schließlich kauft der britische Politiker Ralph Bernal (1784–1854) den Bergkristall für 10 Pfund – aus seinem Besitz geht er schließlich an das British Museum über.

Die Geschichte von Susanna im Bade

Die Entstehungsgeschichte mag unbekannt sein, die auf dem Kristall abgebildete Erzählung ist dafür ein echter Klassiker aus dem Alten Testament: Susanna im Bade. Diese Geschichte stammt aus dem Buch Daniel, Kapitel 13. In Kurzform lautet sie wie folgt:

Zwei alte Männer von hohem sozialen Stand beobachten die schöne Susanna heimlich beim Baden und wollen sich gemeinsam an ihr vergehen. Doch Susanna weist die sexuellen Avancen der beiden Alten zurück. Daraufhin verdrehen die Alten das Geschehen und beschuldigen Susanna öffentlich des versuchten Ehebruchs: Susanna habe versucht, die Alten im Garten zu verführen! Die arme Susanna wird verhaftet und man macht ihr den Prozess, der mit ihrem Todesurteil endet.

An dieser Stelle schreitet zum Glück der Prophet Daniel ein und kann die beiden Alten der Lüge überführen indem er sie getrennt voneinander befragt – dabei verwickeln sich die bösen Alten in Widersprüchen. Die Geschichte endet mit der Hinrichtung der Alten und erfolgreich wiederhergestellter Gerechtigkeit.

Susanna im Bade - beobachtet von den beiden lüsternen alten Männern, die sich (mehr oder weniger geschickt) hinter Büschen verbergen. (Abbildung: British Library, Egerton 859, Prayers to the Saints, entst. 1420-1424, f. 31.)
Im Mittelalter wurde diese Episode aus dem Alten Testament intensiv interpretiert. Insgesamt gab es drei sehr verbreitete Auslegungen der Geschichte:

  • Susanna ist Ecclesia, also ein Symbol für die bedrängte Kirche, die von Daniel als Werkzeug Gottes beschützt wird. Die gesamte Erzählung wird damit zur Metapher für die ideale Beziehung zwischen Herrscher und Kirche: Susanna steht für die Kirche, die vor ihren Feinden beschützt wird durch die gerechten Entscheidungen von Herrschern.
  • Susanna ist ein Beispiel der Keuschheit, weil sie lieber stirbt als Ehebruch mit den Alten zu begehen. 
  • Susannas Geschichte ist ein Beispiel für gerechtes Urteil, denn die Rechtschaffenden werden erkannt und die bösen Lügner schlussendlich bestraft. 

Doch welchen Grund gab es für Lothar, diese Geschichte auf einen Bergkristall gravieren zu lassen? Aus Mangel an konkreten Informationen zur Entstehung werfen wir einen Blick auf die Situation in den fränkischen Teilreichen in der Mitte des 9. Jahrhunderts.

Der Lothar Kristall. (Abbildung: Geni, Wikimedia Commons.)

Lothar und seine Ehefrau: Wie werde ich sie los?

Die Mehrheit der Historiker geht davon aus, dass König Lothar II. (835–869) der Auftraggeber des Kristalls ist. Lothar II. war einer von drei Söhnen von Kaiser Lothar I., die nach dessen Tod im Jahr 855 einen Teil des fränkischen Reiches erhielten: Karl erhielt den Westen mit der Provence plus Burgund, Ludwig den Osten und Italien, Lothar dagegen die Mitte – eine Gegend, die noch heute Lothringen heißt.

Die Herrschaft Lothars war geprägt vom Ringen um seine Herrschaftsposition im notorisch gefährdeten Mittelreich. Denn obwohl die Brüder sich untereinander den Frieden versichert hatten, bestand stets die Gefahr, dass sich Karl und Ludwig gegen Lothar verbündeten.

Ein männlicher Erbe hätte die Position von König Lothar II. deutlich verbessern können, doch die Ehe mit seiner Frau Theutberga blieb kinderlos. Bereits nach zwei Ehejahren strebte Lothar II. deshalb 857 die Scheidung an um seine Mätresse Waldrada heiraten zu können – mit ihr hatte er nämlich bereits einen Sohn.

Auch im Mittelalter konnten Ehen geschieden werden, etwa bei zu naher Verwandtschaft der Eheleute. Das war ein gerne gewählter Vorwand, um eine Scheidung zu begründen. Bei Hochzeiten innerhalb der begrenzten Gruppe von standesgemäßen Personen aus dem Adel war eine Verwandtschaft ohnehin meist sehr schnell nachgewiesen.

Allerdings konnte nur ein kirchliches Urteil eine Ehe wieder auflösen. Lothar II. fand mit den Erzbischöfen von Köln und Trier schnell zwei Kirchenmänner, die seine Bemühungen unterstützten. Die Erzbischöfe brachten Theutberga dazu, eine sexuelle Beziehung mit ihrem Bruder zu gestehen – ein legitimer Grund für eine Scheidung.

Das Problem: Theutberge widerrief ihr Geständnis kurz darauf du fand in Bischof Hinkmar von Reims und Papst Nikolaus I. zwei mächtige Unterstützer, die Lothar II. dazu zwangen, Theutberga als seine legitime Ehefrau zurückzunehmen. Lothar muss sich 865 beugen und die Ehe akzeptieren, doch bekämpft er sie bis zu seinem Tode im Jahr 869 weiter.

Insgesamt bestimmte der langwierige Streit um Lothars Ehe seine Herrschaft: Es war eine schleppende Auseinandersetzung mit einer Reihe von Beichten, Untersuchungen, Synoden und Einmischungen unter anderem durch Karl den Kahlen und den Papst.

Der Kristall als Versöhnungsgeschenk für Theutberga?

Ruft man sich die Kernaussage von Susannas Geschichte ins Gedächtnis, ergeben sich erstaunliche Parallelen zu diesem königlichen Ehestreit: Ebenso wie Susanna wurde Theutberga in den Augen ihrer Unterstützer fälschlicherweise eines sexuellen Verbrechens angeklagt – nämlich von zwei alten Männern, den Erzbischöfen von Köln und Trier! Und ebenso wie Susanna erfuhr sie am Ende Gerechtigkeit als Lothars Scheidungsbestrebungen vom Papst widersprochen wird.

Historiker wie Valerie Flint erkennen in dem Bergkristall deshalb eine Art Versöhnungsgeschenk von Lothar an seine Frau, das 865 geschaffen wurde, als Lothar sich vorübergehend mit Theutberga versöhnt hatte. Der Kristall ist damit auf den ersten Blick vor allem eines: Ein wortwörtlich in Stein gemeißelter Vorwurf an den König für sein Verhalten gegenüber seiner Ehefrau.

Als möglicher Urheber der Darstellungen auf dem Kristall gilt Bischof Hinkmar von Reims. Hinkmar verfasste sogar eine Abhandlung in der er die Scheidung erörterte und zu dem Urteil kommt, dass die Ehe bestehen bleiben sollte. Hinkmar war nicht direkt unparteiisch: Er stand Karl dem Kahlen nahe, der sich als Onkel des kinderlosen König Lothars II. berechtigte Hoffnungen auf das Erbe machte.

 Fraglich bleibt jedoch, warum Lothar seiner ungeliebten kinderlosen Frau ausgerechnet einen Kristall mit der Geschichte Susannas schenken sollte. Es ist schon erstaunlich, dass Lothar in seiner direkten Umgebung ein Objekt dulden wollte, das ihn ständig an sein eigenes Scheitern im Ehestreit erinnern konnte. Umso wichtiger musste es für Lothar sein, dem Kristall eine Interpretation zu verleihen, die positiv für Lothar ausfallen musste.

Siegel von Lothar II. (Abbildung: Base Archim des Archives nationales, SC/B6, via Wikimedia Commons.)

Der Kristall als Symbol für gerechtes Urteilen?

Gerechtigkeit galt im Mittelalter als eine der zentralen Herrschertugenden. Sedulius Scottus zum Beispiel beschrieb den idealen König als gerechten Richter, der jeden Fall abwägt und gerechte Urteile spricht. Es gibt Hinweise, die nahelegen, dass der Kristall gezielt so gestaltet wurde, dass Lothars Rolle als gerechter Herrscher betont wird.

So weisen die Darstellungen auf dem Kristall eine ungewöhnliche Vielzahl an juristischen Details auf: Der Richter urteilt vor einer Versammlung von Zusehern, die in der Bibel nicht erwähnt werden. Außerdem unterscheiden die Bilder präzise zwischen Befragung und Verurteilung. Auch die Vorladung Susannas wird zusätzlich dargestellt – normalerweise wird diese Szene in der mittelalterlichen Kunst nie dargestellt.

Der Fokus liegt also stark auf der Darstellung eines korrekten juristischen Ablaufs. Überträgt man die Susanna-Geschichte wieder auf den Ehestreit, dann wird Lothar II. so zum Richter, der angesichts der vorgebrachten Beweise das richtige und gerechte Urteil fällt. Lothar zieht sich in einer solchen Deutung der Abbildungen geschickt aus der Affäre: Er erkennt, dass die beiden Erzbischöfe von Köln und Trier seine Ehefrau zu Unrecht beschuldigten und urteilt gerecht im Sinne des Papstes – er nimmt folgerichtig seine Frau zurück.

Im Zentrum des Kristalls befindet sich eine Abbildung des Richters, der ein gerechtes (und richtiges) Urteil über Susanna und die Anschuldigung der beiden alten Männer fällt. (Abbildung: Geni, Wikimedia Commons.)


Noch ein Lothar, noch ein Ehebruch

Diese Interpretationen sind durchaus plausibel – wenn es sich beim Auftraggeber wirklich um König Lothar II. handelt. Doch was, wenn der Kristall nicht von König Lothar II, sondern von Kaiser Lothar I. geschaffen wurde?

Die Historikerin Rosamond McKitterick vertritt die These, dass der Kristall bereits im Jahr 849 anlässlich der Versöhnung zwischen Karl dem Kahlen und Lothar I. erschaffen wurde. Auch in diesem Entstehungskontext spielt der Vorwurf des Ehebruchs eine zentrale Rolle: Lothar I. hatte die Ehefrau von Karl bereits 830 des Ehebruchs beschuldigt.

Also sich Karl und Lothar nun versöhnten, fungierte der Kristall als eine Anerkennung von Lothar, dass Karls Mutter Judith unschuldig war. Obwohl auch 849 der Vorwurf des Ehebruchs im Raum steht, ergibt sich aus dem geschichtlichen Kontext eine ganz andere Interpretation des Lothar Kristalls. Lothar I. fiel es sicherlich einfacher, den Vorwurf des Ehebruchs gegenüber der Frau seines bisherigen Kontrahenten fallen zu lassen.

Welche Funktion erfüllte der Lothar Kristall denn nun?

Der Lothar Kristall zeigt, wie entscheidend der historische Kontext für die Interpretation eines Objekts ist. Ohne zusätzliche Informationen kann nicht entschieden werden, ob der Kristall eine krasse Demütigung Lothars ist, die ihm das Scheitern seiner Scheidung immer wieder vor Augen führt oder ob Lothar den Kristall nutzt, um sich mit Anstand aus der Affäre zu ziehen und sogar als gerechter Herrscher zu triumphieren. Zwischen Versöhnung und Verhöhnung scheint alles möglich!

Sogar eine Interpretation des Kristalls als magischer Schutzstein, der das Paar vor Bösem schützen sollte, ist denkbar. Denn Bergkristalle werden auch in fränkischen Gräbern aus dieser Zeit als Amulette gefunden. Bischof Hinkmar von Reims, der als Urheber der Darstellungen auf dem Kristall in Frage kommen könnte, war schließlich gut informiert über Magie. Außerdem passt die Funktion als Schutzstein mit christlichen Motiven gut zu den Bestrebungen der frühmittelalterlichen Kirche, die heidnische Magie zurückzudrängen.

Abschließend bleibt festzustellen: Ohne konkretere Informationen zum genauen Entstehungskontext des Kristall wird sich das Rätsel um seine Funktion nicht abschließend klären lassen.

Literatur zum Lothar-Kristall

Nees, Lawrence: Early medieval art. 2002, S. 239-241.
Rider, Caroline: Magic and impotence in the Middle Ages. Oxford 2006, S. 35.
Kornbluth, Genevra: The Susanna Crystal of Lothar II: Chastity, the Church, and Royal Justice, in: Gesta, Vol. 31, No. 1 (1992), S. 25-39.
Flint, Valeri: Susanna and the Lothar Crystal: A Liturgical Perspective, in: Early Medieval Europe 4:1 (1995), S. 61-86.
McKitterick, Rosamond: The Frankish Kingdoms under the Carolingians. London 1983, S. 174.
BBC A History of the World: Episode 53 - Lothair Crystal.

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