Kulturgeschichte
Kurioses
10 kreative Wege, um im Mittelalter an Reliquien zu gelangen
Juni 22, 2016
Aktuell sorgt ein ungewöhnlicher
Diebstahl für Schlagzeilen: Aus dem Kölner Dom wurde eine Reliquie mit einem Blutstropfen von Papst Johannes Paul II. entwendet. Die Kölner Kirche schmerzt
der Verlust sehr, inzwischen ist man sogar bereit, für Hinweise zur
Wiederbeschaffung eine Belohnung von 1500 Euro zu zahlen.
Diebstahl von
Reliquien ist kein neues Phänomen, schon im Mittelalter versuchte man so gut
wie alles, um eine Reliquie in seinen Besitz zu bekommen. Dabei ist der
materielle Wert des Diebesguts eigentlich eher gering: Reliquien sind nichts
Anderes als Körperteile verstorbener Heiliger. Weitaus größer ist natürlich die
religiöse Bedeutung dieser „Überbleibsel“ (lat. reliquiae). Nach dem Tod trennt sich in der christlichen
Vorstellung die Seele vom Körper und kommt ins Jenseits. Die Seelen der
Heiligen sind dort wahre VIPs: Sie befinden sich in direkter Nähe zu Gott und
können diesen dazu bringen, im Diesseits Wunder für die Gläubigen zu bewirken.
Die Seele bleibt weiterhin mit ihrem irdischen Körper in Verbindung, weil beide
am Tag des Jüngsten Gerichts wieder vereint werden. Der Leichnam des Heiligen
ist deshalb für die Gläubigen der direkte Draht ins Jenseits und zu Gott. Der
Wert von Reliquien ist damit kaum zu ermessen.
Ganzkörperreliquie des Heiligen Hyacinthus. Gold und Diamanten sind Schmuck, um den enormen Wert der Reliquie zu unterstreichen.(Abbildung: Wikimedia Commons, Richard Huber) |
Dadurch stellt sich natürlich unweigerlich
ein Problem: Wie gelangt man in den Besitz eines Heiligenleichnams? Hier sind 10
kreative Wege, wie man im Mittelalter versuchte, eine Reliquie zu ergattern:
(1) Wunder
Das Wunder ist sicherlich der
eleganteste Weg, um im Mittelalter an eine Reliquie zu gelangen. Jacobus de Voragine
erzählt im 13. Jahrhundert zum Beispiel folgende Geschichte: Ein Mönch aus
Rouen reist in das Katharinenkloster auf dem Sinai und fleht die Heilige
Katharina sieben ganze Jahre lang an, sie möge ihm einem Teil ihres Leichnams schenken.
Plötzlich fällt dann tatsächlich ein Finger vom toten Körper der Heiligen ab.
Glücklich kehrt der Mönch in sein Kloster in der Heimat zurück. Hier zeigt sich
der besondere Status des toten Körpers der Heiligen: Der Heilige Leichnam ist
nach der mittelalterlichen Vorstellung ein selbstbestimmtes Wesen, das aktiv
handeln kann. Der fromme Mönch wird so von der Heiligen belohnt.
(2) Suche
Helena findet das wahre Kreuz Christi, Abbildung aus MS CLXV, Bibliotheka Capitolare, Vercelli, circa 825 (Abbildung: Wikimedia Commons) |
Alls Gläubiger kann man sich
im Mittelalter auch aktiv auf die Suche nach bislang verschollenen Reliquien machen.
Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, ist sicherlich das prominenteste
Beispiel einer Reliquiensucherin. Sie geht ziemlich gründlich vor: Auf einer
Reise nach Palästina sucht Helena nach Reliquien der Passion Christi und findet
unter anderem einige Teile des Kreuzes Christi. Diesem Beispiel folgend schickt
Mitte des 6. Jahrhunderts Radegunde, die Äbtissin eines Frauenklosters in
Poitiers, eine Gesandtschaft nach Jerusalem, um dort Leichenteile des Märtyrers
Mamas zu erwerben.
(3) Streit
Nicht immer gestaltete sich der
Reliquienerwerb so friedlich. Zum Teil kommt es zu gewaltsamen Konflikten um
die sterblichen Überreste. Als der Heilige Martin im Dorf Candes schwer
erkrankt, versammeln sich sofort Gläubige aus Tours und Poitiers. Kaum ist der
Heilige verstorben, geraten die Menschen in erbitterten Streit um die Leiche. Laut
dem Geschichtsschreiber Gregor von Tours bringt ein Wunder schließlich die
Entscheidung: Während der gemeinsamen Nachtwache schlafen die Bewohner von Poitiers
ein. Die Gläubigen aus Tours reagieren blitzschnell auf dieses göttliche
Zeichen: Sie schaffen den Leichnam umgehend in ihre Stadt. Der Bericht Gregors
ist natürlich auch eine geschmeidige Rechtfertigung für den Diebstahl des
Leichnams durch seine Mitbürger aus Tours.
(4) Diebstahl
Andere Diebstähle lassen sich
weniger gut rechtfertigen. In der Mitte des 9. Jahrhunderts blickt man im
Kloster Conques in Südfrankreich neidisch auf das benachbarte Kloster Figeac.
Dort blüht das geistliche Leben und die Gläubigen strömen scharenweise in die
Kirche. Conques hat dagegen zwei entscheidende Nachteile: Zum einen liegt das
Kloster nicht besonders verkehrsgünstig und zum anderen fehlen wirkmächtige
Reliquien. Doch man weiß sich zu helfen: Im Kloster Agen befinden sich die
Gebeine der Heiligen Fides, einer 12-jährigen Märtyrerin aus dem 4.
Jahrhundert. Die Mönche aus Conques schleusen einen ihrer Brüder im Kloster
Agen ein, der angeblich zehn Jahre lang auf den richtigen Moment wartet. Eines
nachts ist es dann so weit: Der Mönch aus Conques ist endlich alleine mit dem
Leichnam der Heiligen – und stiehlt ihn. Von nun an wirken die Reliquien in
Conques ihre Wunder und bescheren dem Kloster einen wirtschaftlichen
Aufschwung.
Reliquiar, in dem die Reliquien der Hl. Fides in Conques heute aufbewahrt werden (Abbildung: Wikimedia Commons, ZiYouXunLu) |
(5) Schlichtung
Nicht alle Streitigkeiten lassen
sich durch ein Wunder oder den Diebstahl der Leiche beenden. Auch beim Tod von
Robert von Arbrissel im Jahr 1116 kommt es zu Streitigkeiten. Der Verstorbene
steht im Ruf der Heiligkeit und äußert vor seinem Tod den Wunsch, in einem
einfachen Erdgrab in seinem Kloster Fontevraud bestattet zu werden. Doch auch
in Orsan, wo Robert verstirbt, meldet man Ansprüche auf den Leichnam an. Man
einigt sich schließlich Salomonisch: Der tote Körper wird kurzerhand zerlegt –
so erhalten beide Seiten Reliquien. Das Herz Roberts wird in der Abtei von
Orsan bestattet, sein Leichnam im Kloster Fontevraud.
(6) Initiative
Personen, die man schon zu
Lebzeiten für Heilige hält, ziehen auf dem Sterbebett gesteigerte
Aufmerksamkeit auf sich. Die Menschen erkennen „in den heiligmäßig Lebenden
Personen den zukünftigen Leichnam“ (Schmitz-Esser, Leichnam, S. 130). Natürlich
kann man schon vor dem Ableben des Heiligen die Initiative ergreifen: Der
Heiligen Franz von Assisi wird zum Beispiel im Bischofspalast eingesperrt, um
sicher zu gehen, dass Franz auch wirklich in Assisi stirbt. Als Anselm von
Canterbury auf einer Reise in Jumièges schwer erkrankt, sehen die Bewohner der
Stadt schon die Chance gekommen, sich seinen Leichnam als Reliquie zu sichern.
Doch Anselm erholt sich wieder. In Jumièges reagiert man darauf mit Enttäuschung
und Zorn – schließlich hatte man sich schon auf eine wertvolle Reliquie
gefreut.
(7) Gewalt
Besonders rabiat geht Hugo von Lincoln
mit den Leichen von Heiligen um. Einmal beißt er aus dem Armknochen der Maria
Magdalena mit seinen Zähnen ein Stück ab, ein andern Mal bricht er dem Heiligen
Nicasius das Nasenbein aus dem Schädelknochen heraus. Hugos Taten klingen für
uns heute wie Leichenschändung, doch seine Zeitgenossen sehen wenig Anlass für
Kritik. In der Vorstellung der mittelalterlichen Menschen hat der Heilige
durchaus die Möglichkeit, sich gegen eine solche Behandlung seines Leichnams zu
wehren und sie zu verhindern. So kann Bernhard von Clairvaux dem Leichnam des
Heiligen Caesarius selbst mit einem Messer keinen einzigen Zahn entfernen. Das
gelingt erst, als Bernhard zum Heiligen betet.
(8) Plünderung
Noch brutaler gehen die Menschen
mit dem Leichnam der Heiligen Elisabeth von Thüringen um. Als sie im November
1231 stirbt und in Marburg aufgebahrt wird, richten Gläubige den Körper der
Toten ziemlich übel zu: Sie schneiden ihr Kopfhaare, Fingernägel, Ohrläppchen
und sogar die Brustwarzen ab. Die Plünderung und Zerstückelung der Leiche
erfolgt auch hier in der Hoffnung, so an die Reliquie einer Heiligen zu
gelangen, um damit einen unmittelbaren Zugang zum Ohr Gottes zu erhalten.
Reliquiare sehen oft aus wie die Körperteile, die in ihnen enthalten sind. In diesem Armreliquiar aus dem 15. Jahrhundert befinden sich der linke Oberarm sowie die rechte Elle und Speiche von Kaiser Karl dem Großen (Abbildung: Wikimedia Commons, ACBahn) |
(9) Kauf
Wer nie in das zweifelhafte
Vergnügen kommt, sich auf solche Weise eigenhändig mit Leichenteilen zu
versorgen, dem bleibt im Mittelalter noch eine letzte Möglichkeit: Der Kauf von
Reliquien. Das ist zwar offiziell durch die Kirche verboten, doch wen kümmern
solche Verbote schon angesichts der verlockenden Aussicht auf einen direkten
Draht ins Jenseits?! Auch hohe Geistliche kommen so in den Besitz von
Reliquien: Im Jahr 1032 kauft etwa der Erzbischof Aethelnoth von Canterbury in
Padua einen Arm des Heiligen Augustinus. Ausdrücklich erlaubt war der Kauf von
Reliquien aus den Händen von „Ungläubigen“. Nach er Eroberung Jerusalems durch
Saladin zahlen die Christen zum Beispiel eine enorme Summe, um von den Muslimen
erbeutete Reliquien zurückzuerhalten.
(10) Fälschung
Der Bedarf an Reliquien ist im
Mittelalter so konstant hoch, dass er kaum mit echten Leichenteilen gedeckt
werden kann. Schon Augustinus berichtet im 4. Jahrhundert von herumziehenden
Mönchen, die unechte Reliquien verkaufen. Erwirbt man im 12. Jahrhundert von
zwielichtigen Händlern Knochensplitter von Heiligen, dann stehen die Chancen
nicht schlecht, dass es eigentlich gewöhnliche Tierknochen sind. In Rom werden
unzählige Leichen ausgegraben, um sie anschließend als die Gebeine lokaler
Heiliger zu verkaufen. Die Fälscher betreiben zum Teil erheblichen Aufwand:
Gregor von Tours berichtet von einem Reliquienfälscher, der aus Wurzeln,
Maulwurfszähnen, Bärenklauen und Bärenfett die vermeintlichen Gebeine zweier
Märtyrer fertigt. Immer wieder verurteil die Kirche die Reliquienfälscher. Allein:
Es hilft nichts. Der Wunsch nach Reliquien ist auch unter den einfachen Leuten
im Mittelalter einfach zu groß.
Literatur
Geary,
Patrick J.: Furta sacra. Thefts of Relics in the Central Middle Ages, Princeton ²1990.
Herrmann-Mascard, Nicole: Les reliquies des saints. Formation coutumière d’un droit, Paris 1975 (=Societé d’Histoire du Droit. Collection d’Histoire Institutionelle et Sociale 6).
Mayr, Markus:
Geld, Macht und Reliquien. Wirtschaftliche Auswirkungen des Reliquienkultes im
Mittelalter, Innsbruck/München 2000.
Schmitz-Esser, Romedio:
Der Leichnam im Mittelalter. Einbalsamierung, Verbrennung und die kulturelle
Konstruktion des toten Körpers, Ostfildern 2014 (=Mittelalter-Forschungen, Bd.
48), S. 129-137.
Schreiner, Klaus: “Discrimen
veri ac falsi”. Ansätze und Formen der Kritik in der Heiligen- und
Reliquienverehrung des Mittelalters, in: Archiv für Kulturgeschichte 48 (1966),
S. 1-53.
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