Geister und wiederkehrende Tote

Im Blog-Beitrag im April habe ich mich mit den mittelalterlichen Vorstellungen vom Jenseits und dem Leben nach dem Tod auseinan...

Im Blog-Beitrag im April habe ich mich mit den mittelalterlichen Vorstellungen vom Jenseits und dem Leben nach dem Tod auseinandergesetzt. Basierend auf den eher spärlichen Angaben in der Bibel bildete sich im Laufe des Mittelalters eine unglaublich detaillierte und ziemlich lebendige Topografie des Jenseits heraus. In vielen literarischen Quellen wurden Reisen ins Jenseits beschrieben, in denen die staunenden Lebenden Zeugen werden von fürchterlichen Qualen im Fegefeuer und himmlischen Freuden im Paradies.

Doch die Seelen der Verstorbenen warteten nicht nur in Himmel, Hölle oder Fegefeuer auf das Jüngste Gericht – manchmal kehrten sie auch aktiv ins Diesseits zurück! Um diese wiederkehrenden Toten und Geister soll es im heutigen Blog-Artikel gehen. Wir erfahren, auf welcher Grundlage der mittelalterliche Glauben an Geister und wiederkehrende Tote fußte und gehen der Frage nach, warum die Toten überhaupt zurückkehrten. Außerdem nehmen wir ein paar sehr interessante Quellenstellen genauer unter die Lupe.

Die Toten steigen aus ihren Gräbern (links) und besuchen Hinterbliebende im Traum (rechts). (Abbildung: Mâcon, Bibliothèque municipale, MS 3, Jacobus de Voraigne, Légende dorée, 15. Jahrhundert, fol. 25v.)

Die Lebenden und die Toten

Wenn wir über das Jenseits sprechen, müssen wir uns stets bewusst machen, dass das Reich der Toten ein Ort ist, der von den Lebenden erdacht ist. Ebenso wird das Verhalten der Toten von den Lebenden entworfen – in mündlichen Berichten, Briefen oder literarischen Werken. Die Vorstellungen, die sich eine Gesellschaft von den Toten macht, sind damit auch ein Spiegelbild der Gesellschaft und ihrer Kultur.

In der Antike etwa waren wiederkehrende Tote weit verbreitet. In der griechisch-römischen Kultur finden sich unzählige Geschichten von Toten, die ihre Hinterbliebenen im Traum heimsuchen – etwa weil die Toten keine endgültige Grabstätte erhalten hatten oder einem Mord zum Opfer gefallen waren. Diesem Typus des Toten, der von einem argen Problem gequält wird und deshalb im Grab keine Ruhe findet, werden wir später im Mittelalter wieder begegnen.

Während die antiken Geister nur immaterielle „Abbilder“ des Verstorbenen waren, haben wir es in der germanischen Tradition mit wiederkehrenden Toten zu tun, die richtige Körper besitzen und so aussehen als kehrten die Leichname selbst zurück. Obwohl die Quellen, die uns Auskunft über die germanischen Vorstellungen von Geistern und wiederkehrenden Toten geben können, hauptsächlich aus dem Hochmittelalter stammen, lassen sich hier doch ältere Traditionen freilegen. Die Toten kehren hier als mordende und plündernde Schar ins Jenseits zurück und verbreiten reichlich Chaos.

Ein Beispiel für diese germanische Tradition der körperlichen Toten findet sich zum Beispie bei Saxo Grammaticus (1149-1216) in seiner Geschichte der Dänen. Saxo berichtet von Asvith, der als junger Mann verstarb und seinem Freund Asmund, der geschworen hatte den Freund nie alleine zu lassen. Gesagt, getan: Asmund ließ sich nach dem Tod seines Freundes in das Grab von Asvith hinablassen.

Dort musste Asmund feststellen, dass sein verstorbener Freund jede Nacht lebendig wurde und wie im Blutrausch jeden in seiner Nähe attackierte und tötete. Auch vor Asmund machte der Tote keinen Halt. Schwer verletzt musste Asmund seinem Freund den Kopf abschneiden und einen Speer durch den Körper treiben, um sich selbst zu retten.

Die mittelalterlichen Vorstellungen von Geistern und wiederkehrenden Toten fußten sowohl auf diesen germanischen als auch auf den antiken Traditionen. Die Bibel hatte dagegen in Sachen Geistern wenig zu bieten: Geister existieren in der Bibel nicht. Jesus erweckt zwar Tote wieder zum Leben und steht auch selbst wieder am dritten Tag von den Toten auf, doch sind dies natürlich komplett andere Ereignisse als Berichte von wiederkehrenden Toten.

Eine einzige nennenswerte Stelle im Alten Testament gibt es: König Saul, so heißt es im 1. Buch Samuel, beauftragte die Hexe von Endor damit, die Toten zu befragen, wie eine bevorstehende Schlacht ausgehen werde. Der Tote Samuel, den die Hexe beschwörte, spricht mit Saul und prophezeit dem König den Tod am nächsten Tag. Theologen und Gelehrte taten sich jeher schwer mit dieser Bibelstelle: Hatte sich hier tatsächlich Samuels Seele gezeigt? Hat die Hexe den König nur mit einem Trick getäuscht? Hatte der Teufel ein falsches Bild erzeugt oder sich gar selbst gezeigt?

Zählt nicht: Lazarus kehrte zwar ins Diesseits zurück - allerdings weil Jesus ihn wieder zum Leben erweckte. Geister und wiederkehrende Tote gibt es im Neuen Testament nicht. (Abbildung: British Library, Harley 2924, Stundenbuch aus Rouen, entstanden um 1510/20, f. 143.)


Für die Gelehrten im Frühmittelalter stand fest, dass nur Gott, die Heiligen sowie Engel (bzw. Dämonen) die Fähigkeit hatten, mit den Menschen im Diesseits Kontakt aufzunehmen. So gibt es aus dem Frühmittelalter zwar Berichte über verstorbene Heilige, die aus dem Jenseits zurückkehrten, um ihr Grabmal zu verteidigen oder Gläubigen beizustehen. Doch den unglücklichen, von einem Problem geplagten Toten, gab es im Frühmittelalter nicht. Mit anderen Worten: Die „gewöhnlichen Toten“ kehrten nicht aus dem Jenseits zurück.

Die Ausnahme waren Heilige: Sie konnten jederzeit den Lebenden erscheinen und mahnende oder aufmunternde Worte an sie richten. Schlief ein Gläubiger zum Beispiel direkt am Grab des Heiligen, so konnte er mit einiger Sicherheit darauf hoffen, dass ihm der Heilige im Traum erschien. Diese Praxis kannte man auch in der Antike in Form des sogenannten Tempelschlafs. All das änderte sich um das Jahr 1000: Die Menschen befassten sich im 11. Jahrhundert immer intensiver mit ihren individuellen und subjektiven Erfahrungen. Das persönliche Erlebnis erfuhr eine immer größere Aufmerksamkeit. Das hatte einerseits zur Folge, dass Menschen eher dazu bereit waren, mit anderen über ihre Erlebnisse, Gefühle und Träume zu sprechen und sorgte dafür, dass immer mehr autobiographische Schriften entstanden, in denen die Autoren von wiederkehrenden Toten und Geistern berichteten.

Gleichzeitig wurde die memoria, also die Erinnerung an verstorbene Verwandte und Angehörige immer wichtiger. Daraus erwuchsen Verpflichtungen, die die Lebenden zu erfüllen hatten. Dadurch entstand eine enge Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten, die ihren Ausdruck in Berichten von wiederkehrenden Toten fand.


Die drei eitlen Lebenden treffen auf drei Tote - und erhalten einen moralischen Einlauf. (Abbildung: British Library, Arundel 83, Psalter, entstanden 1310, f. 127.)

Viele Menschen im Hochmittelalter waren aufgewühlt durch die Gewissheit, dass alles Irdische vergänglich ist. Die Vorbereitung auf den unvermeidlichen Tod und das Jenseits hatten deshalb eine besondere Bedeutung im Leben der Menschen. Schließlich wollte niemand nach dem Tod im Fegefeuer schmoren!

Die Legende von den drei Lebenden und den drei Toten spiegelt diese Sorge um das Leben nach dem Tod wider: Drei junge Edelleute verirren sich bei der Jagd auf einen Friedhof und treffen auf drei Tote. Die Toten erzählen, dass sie für frühere Sünden büßen müssen und ermahnen die Lebenden, ihren Hochmut und ihr Leben in Genuss aufzugeben. Natürlich erkennen die jungen Edelleute sich selbst in den Toten, erschrecken vor dem auch ihnen drohenden Schicksal und geloben sofortige Besserung. Mit solchen Erzählungen wollten sich die Menschen konstant dazu ermahnen, ihren Fokus nicht auf die irdischen Dinge zu richten, sondern auf das Jenseits.

Geistergeschichten in den mittelalterlichen Quellen

Die wichtigsten Quellen für die mittelalterliche Vorstellung von wiederkehrenden Toten lassen sich in zwei Textsorten einordnen:

  • Mündliche Berichte, die später von einem Kleriker niedergeschrieben wurden
  • Autobiographische Texte

Die autobiographischen Texte sind geprägt von einer hohen Subjektivität und Detailreichtum der teils originellen Schilderungen. Menschen, die ihre Erlebnisse mit Toten niederschrieben, berichteten meist davon, dass die Toten ihnen im Traum erschienen – oft in einer nur schwer greifbaren Form, meist als unbestimmtes Gefühl oder Geräusch.

In mündlich überlieferten Berichten, die dann von einem Dritten niedergeschrieben wurden, sehen die Geister dagegen meist aus wie lebende Personen, sie verhalten sich wie der Lebende und sprechen auch wie er. Außerdem erscheinen die Geister in diesen Berichten meist einem wachen Menschen.

Diese Unterschiede sind erstaunlich, lassen sich jedoch durch die Überlieferungssituation erklären. Denn der Verfasser einer Autobiographie kann recht ungefiltert sein persönliches Erleben niederschreiben. Wurden Menschen dagegen von einem Kleriker gebeten, ihm ihre Begegnung mit einem Geist zur schildern, so hatten sie ein Interesse daran, den Kleriker von der Wahrhaftigkeit ihres Erlebnisses zu überzeugen.

Kleriker hatten ihrerseits häufig Vorbehalte gegen Dinge, die Menschen im Traum erlebten. Denn Träume galten als Einfallstor für Dämonen und Teufel, die den Menschen so verwirren wollten. Um ihre Geschichte glaubwürdiger zu machen, betonten die Menschen deshalb, dass sie im Moment der Geistererscheinung definitiv wach gewesen waren.

Die Erzählungen von wiederkehrenden Toten unterscheiden sich damit fundamental von den Jenseitsvisionen, die als wichtigste Quelle für die Jenseitstopografie dienen. Denn bei den Jenseitsvisionen geht es mehr um die Schilderung des gesamten Jenseits durch einen Lebenden und weniger um das Schicksal eines einzelnen Toten. Einzelne Verstorbene treten höchstens als beispielhafte Figuren auf.

Anders in den Geistergeschichten: Hier erscheint ein individuell identifizierbarer Toter im Diesseits – meist, weil er noch nicht ganz im Reich der Toten angelangt war oder sich noch nicht ganz vom Diesseits lösen hatte können. Die Toten sind dabei ganz normale Verstorbene, die ihren Hinterbliebenen erscheinen.


Gab es keine anständige, christliche Beerdigung für den Leichnam, dann stand zu befürchten, dass der ruhelose Verstorbene seine Hinterbliebenen besuchen würde. In dieser Miniatur aus einer französischen Handschrift werden alle Rituale der Beerdigung zum Glück korrekt eingehalten. (Abbildung: British Library, Burney 332, Stundenbuch aus der Diözese Clermont, entstanden Ende des 15. Jahrhunderts, f. 69.)

Warum kehren die Toten zurück?

Nicht alle Verstorbenen kehrten ins Diesseits zurück. Und sie erschienen nicht plötzlich irgendwo irgendwem. Die Toten kehrten nur dann zurück, wenn die Übergangsriten im Rahmen des Todes nicht korrekt ausgeführt wurden. Das heißt: Wenn es keine ordentliche Bestattung gab, die Trauerphase gestört wurde oder die Hinterbliebenen ihre Pflichten gegenüber dem Toten nicht erfüllten. Auch ermordete oder betrogene Tote kehrten zurück, um die Dinge im Diesseits geradezurücken. Diese Form der Geister und wiederkehrenden Toten ist noch heute in Literatur und Film sehr präsent, man denke nur an Filme wie Poltergeist (1982) und Conjuring (2013).

Interessanter für das Verständnis des Verhältnisses zwischen Lebenden und Toten im Mittelalter sind Berichte von hilfreichen Tote, die ins Diesseits kamen, um einen Lebenden zu unterstützen. Entweder durch wertvolle Informationen oder durch tatsächliche physische Hilfe. Dieses Motiv der sogenannten Totenhilfe begegnet uns immer wieder in mittelalterlichen Legenden, Sagen und Märchen.

So berichtet der Kirchenvater Augustinus von Hippo von einem jungen Gehilfen eines Freundes, der sehr jung verstarb. Kurz vor seinem Tod war dem jungen Gehilfen im Traum ein verstorbener Student erschienen, der ihm seinen Tod ankündigte. Wenige Tage später verstarb der Gehilfe dann tatsächlich. Seine Mutter versinkt in Trauer, doch auch ihr erscheint kurz darauf im Traum ein verstorbener Diakon und spendet Trost: Er versichert der Mutter, dass ihr Sohn im Jenseits in das himmlische Paradies aufgenommen wurde.

Doch damit noch nicht genug der wiederkehrenden Toten: Kurz darauf, so berichtet Augustinus, erschien auch der junge Gehilfe selbst seinem Bruder im Traum. Er bestätigt nochmals, dass er ins Paradies aufgenommen wurde und überbringt seinem Bruder eine Nachricht aus dem Jenseits: Er sei gekommen, um den Vater ebenfalls ins Jenseits zu holen. Vier Tage später verstarb dann auch der Vater.

Dank der Besucher aus dem Jenseits erhielten die Lebenden wertvolle Informationen: Sie konnten sich auf ihren eigenen Tod vorbereiten, ein letztes Mal ihre Sünden büßen und so alles notwendige tun, um nach dem Tod ins Jenseits aufgenommen zu werden. Die Hinterbliebenen erhielten dann auch die Gewissheit, dass ihre Liebsten tatsächlich ins Paradies aufgenommen wurden.

Auch die Legenda aurea des Dominikaner Jacobus de Voragine (1228/29–1298) berichtet von Hilfe aus dem Jenseits – allerdings greifen die Toten hier ziemlich aktiv ins Diesseits ein: Wie auf dem hier abgebildeten Wandgemälde aus dem 17. Jahrhundert zu sehen, stiegen laut der Legende die Toten aus ihren Gräbern, um einen jungen Ritter vor seinen Verfolgern zu retten. Denn der Ritter hatte Zeit seines Lebens auf Friedhöfen für die Verstorbenen gebetet – die sich nun in der Stunde der Not revanchierten. Während der Ritter sich in die Kirche retten kann, greifen die Skelette zu den Waffen und treten den ebenfalls bewaffneten Verfolgern entgegen. Dabei verraten die Geräte, mit denen die Toten kämpfen, welchem Beruf sie im Leben nachgegangen waren.

Dankbare Tote schützen einen für sie betenden Ritter vor Angreifern. Wandgemälde von 1691 in der Friedhofskapelle neben der Kirche St. Johann Baptist und Heilig Kreuz in Westerndorf bei Rosenheim. (Abbildung: Wikimedia Commons, Rollroboter.)

Geister im Geschichtswerk von Thietmar von Merseburg

Eine der wichtigsten Quellen für den mittelalterlichen Glauben an wiederkehrende Tote ist Thietmar von Merseburg. Thietmar stammte aus altem und bedeutendem sächsischem Adel und wurde 1009 Bischof von Merseburg. Als Reichsbischof war er unmittelbar an den wichtigen politischen Entscheidungen im Reich beteiligt und darüber hinaus ein kluger Gelehrter. Thietmar verfasste eine Chronik der Geschichte von 908 und 1018 in der er neben den politischen Ereignissen und der Stadtentwicklung von Merseburg auch immer wieder von wiederkehrenden Toten berichtete.

Kurz nachdem König Heinrich I. das Städtchen Walsleben im Rahmen einer militärischen Unternehmung nach Mecklenburg und Pommern im Jahr 926 aus den Händen der heidnischen Slaven befreien konnte, erscheinen dort auf dem Friedhof mehrere Tote, die den unmittelbar bevorstehenden Tod des Priesters korrekt vorhersagen. Für Thietmar ist die Erscheinung der Toten der Beweis, dass die Toten – dem christlichen Glauben gemäß – zweifellos am Ende der Tage auferstehen würden. Denn kaum war der Ort aus der Hand der Heiden befreit, schon zeigten sich die Toten und - so die Logik des Bischofs - sind damit ein Vorzeichen für die Auferstehung am Tag des Jüngsten Gerichts.

Aus Magdeburg weiß Thietmar zu berichten – wie ihm selbst von Magdeburgern erzählt wurde – dass dort eine Gruppe von Wächter eines Nachts auf dem Friedhof einer Kirche zwei Männer sahen, die kirchliche Lieder sangen und plötzlich verschwanden, als die Wächter sich näherten. Als Thietmar von der nächtlichen Begegnung erfuhr, begann er mit Nachforschungen, die ihn auch zur Äbtissin eines nahen Klosters führten.

Sie erstaunt das Geschehen nicht, denn sie kennt eine ähnliche Begebenheit, die Bischof Baudry von Utrecht (918–975) widerfuhr: Der Bischof hatte gerade eine wieder errichtete Kirche einem neuen Priester übergeben. In der ersten Nacht erblickte der Priester eine Gruppe von Toten, die in der Kirche eine Messe feierten und sangen. Als der Priester dem nächtlichen Treiben daraufhin nachgehen wollte, ergriffen ihn die Toten und verbrannten ihn auf dem Altar. Als der Bischof von Utrecht dies hörte, ordnete er sofort ein dreitägiges Fasten in der Diözese an.

Sie könne noch viele weitere solcher Geschichten erzählen, versicherte die Äbtissin daraufhin Thietmar. Denn der Tage gehöre den Lebenden, die Nacht jedoch den Toten. Für Thietmar waren auch diese Ereignisse eindeutige Beweise dafür, dass die Seele im Jenseits weiterexistierte und unsterblich sei.

Anhand dieser Episoden zeigt sich, wie eng die Verbindungen zwischen der Welt der Lebenden und dem Reich der Toten für die Menschen im Hochmittelalter war: Die Toten erschienen, um den Tod eines Lebenden vorherzusagen und sie waren jederzeit dazu bereit, einen Ort für sich zu beanspruchen, den die Lebenden verlassen hatten – wie in diesen Fällen eine vom Krieg verwüstete Stadt oder eine zerstörte Kirche. Die Toten lebten zwischen Ruinen und mussten durch die Gewalt der Priester mittels Reliquien und Weihwasser jederzeit zurückgedrängt werden.

So freundlich können Tote sein. (Abbildung: British Library, Yates Thompson 13, Stundenbuch aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, f. 180.)


Neben diesen Erscheinungen von anonymen Toten schildert Thietmar auch Momente, in denen individuelle Tote ihren Hinterbliebenen erschienen sind. Diese Episoden erfüllen keine theologische Funktion, sondern eine politische. So erschien etwa laut Thietmar der verstorbene Erzbischof Adalbert von Magdeburg im Jahr 981 um den Lebenden seine Unzufriedenheit mit seinem Nachfolger kundzutun. In der Vorstellung der Zeit wachten auch die verstorbenen Erzbischöfe mit strengem Auge über den erzbischöflichen Stuhl und jeden, der ihn bestieg.

Auch eine eigene Erfahrung mit einem wiederkehrenden Toten hielt Thietmar schriftlich fest: Am 18. Dezember 1012, einem Freitag, befand sich Thietmar am frühen Morgen in einer Kirche in Rottmersleben als er ein merkwürdiges Stöhnen hörte. Thietmar erfuhr, dass ein solches Stöhnen bereits mehrmals zu hören war und stets den Tod eines Menschen angekündigt hatte. Und tatsächlich: Bald darauf starb seine eigene Nichte Liutgard. Noch mehrere Male hörte Thietmar merkwürdige Geräusche und sogar die Stimmen von Toten, die sich unterhielten – und sie kündigten stets einen Tod an. In einer Welt, in der jedes Geräusch und jeder Schatten von den Lebenden als Zeichen gedeutet wurde, gehörte die Anwesenheit der Toten zur Realität und ihre hellseherische Kraft wurde nicht angezweifelt.

Eine christliche Bestattung war wichtig: Der Verstorbene hatte seine letzte Ruhe gefunden, seine Seele gelangte ins Jenseits und sein Leichnam wartete auf die Auferstehung am Jüngsten Tag. Deshalb gilt das Bestatten von Toten im Christentum auch als eines der Werke der Barmherzigkeit. Zum wiederkehrenden Toten wird dieser Verstorbene also wohl nicht. (Abbildung: British Library, Yates Thompson 31, Breviari d'Amor, entstanden Ende des 14. Jahrhunderts in Spanien, f. 110v.)

Die besseren Träume: Ekstatische Visionen von Verstorbenen

Die Toten erschienen den Lebenden für Gewöhnlich im Traum ohne dass die Lebenden ihr Erscheinen bewusst beeinflussen konnten. Doch Gläubige konnten auch durch tiefe Gebete und Meditation gezielt darauf hinarbeiten, dass die Toten mit ihnen Kontakt aufnehmen. Die Erscheinungen waren damit das Produkt einer ekstatischen Leistung des Gläubigen, der sich durch Gebete und Andachtsübungen in einen tranceartigen Zustand versetzten und sich so den Kontakt mit den Verstorbenen gewissermaßen „erarbeitet“ oder „verdient“ hatte.

Der Dominikaner Robert von Uzès versenkte sich zum Beispiel tief in Gebete und Andachtsübungen und sah dann seine verstorbenen Verwandten. Je nach dem Zustand ihrer Seele konnte Robert darauf schließen, ob die verstorbenen Seelen sich im Paradies oder in der Verdammnis befanden.

Die Nonne Gertrude aus dem Konvent Helfta berichtete um 1300, dass ihr unter schmerzhaften Visionen unter anderem verstorbene Nonnen aus dem Konvent, weltliche Brüder und verstorbene Ritter aus der Gegend erschienen. Bei den so erscheinenden Toten handelte es sich um Verstorbene, die noch nicht ganz von ihren Sünden gereinigt waren und um Hilfe der Lebenden in Form von Gebeten und Almosen baten.

Solche ekstatischen Visionen genossen unter Geistlichen einen deutlich höheren Status als Träume. Das lag am unterschiedlichen Charakter der beiden Zustände: Während der Traum unkontrolliert und anfällig für Manipulationen durch den Teufel waren, boten Visionen eine sichere Verbindung ins Jenseits. Die mittelalterlichen Vorbehalte gegen Träume reichten weit zurück: Im frühen Mittelalter galten Träume als verdächtig, denn sie widersprachen sowohl als sehr subjektive Erlebnisse dem Verständnis von Christentum als Gemeinschaft als auch dem, was durch die Schriften der Kirchenlehrer als Glaubenserfahrungen festgelegt war.

Als dann im Hochmittelalter subjektive Erfahrungen immer relevanter wurden, äußerten sich die Menschen deutlich individueller in Wort und Text. Träume wurden zusehends wertvoll, um verborgene Einblicke ins Jenseits und die Zukunft zu erlangen. Doch da Träume naturgemäß außerhalb der Kontrolle der kirchlichen Instanzen lagen, wurden sie von geistlicher Seite oft dämonisiert und als Produkte des Teufels verdammt. Nur die kontrollierten und von der Kirche legitimierten ekstatischen Visionen von Toten galten unter Geistlichen als authentisch.

So wurde im Mittelalter zunehmend unterschieden zwischen „wahren“ und „falschen“ Träumen“ Als „wahre“ Träume galten jene, in denen Heilige erschienen und Nachrichten überbrachten, denn dies hielt man im Rahmen der Jenseitsvorstellungen für möglich. Andererseits konnten alle Träume unter Verdacht geraten, „falsche“ Träume zu sein, denn dem Teufel wurde die Fähigkeit nachgesagt, Träume zu manipulieren und so die Menschen zu täuschen.

Am Ende hing es deshalb oft stark von der Autorität des Träumenden ab, ob sein Traum als „wahr“ oder „falsch“ galt. Anders dagegen beim Gegenstück, der klaren und wachen Vision: Sie war geschützt vor dem Zugriff von Teufel und Dämonen und bot die wahre Verbindung ins Jenseits.

Diese Unterscheidung diente von kirchlicher Seite auch dazu, den Kontakt zum Jenseits in ihren Kreisen zu monopolisieren. Die Träume einfacher Gläubiger waren verdächtig, die Visionen von Ordensbrüdern und Geistlichen dagegen legitimierte Berichte aus dem Jenseits. Auch hier zeigt sich, was bereits eingangs betont wurde: Die Vorstellungen, die sich eine Gesellschaft von den Toten macht, sind auch ein Spiegelbild der Gesellschaft und ihrer Kultur.

Literatur zu Geistern und wiederkehrenden Toten im Mittelalter


Schmitt, Jean-Claude: Ghosts in the Middle Ages. The Living and the Dead in Medieval Society. Translated by Teresa Lavender Fagan, Chicago 1998.

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1 Kommentare

  1. Interessantes Thema. Es wird noch interessanter, wenn man sich bewusst macht, dass Vieles von dem was Du schreibst, nach wie vor Teil der kirchlichen Lehre ist, zumindest der traditionell-katholischen.
    Verstorbene, die im Himmel sind, kann man um Fürsprache und Hilfe bitten, während "arme Seelen" im Fegefeuer eben diese Fürsprache brauchen, um den letzten Schritt in den Himmel tun zu können. Das ist die Lehre von den "Drei Ständen" der Kirche: Ecclesia militans, Ecclesia triumphans und Ecclesia in purgatorio.
    Auch heute noch lehren katholische Exorzisten, dass Verdammte ebenso wie Dämonen, eine Um- oder Besessenheit verursachen können.
    Und dann wäre da natürlich noch die Sache mit der Reliquienverehrung
    So weit weg von heute ist das Mittelalter also gar nicht...

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